AboInterview zum EU-Vertragspaket«Unterwerfung, Unterjochung, fremde Vögte: Das ist ein Vokabular aus dem Mittelalter»
Kaspar Engeli ist Direktor von Handel Schweiz und ein flammender Befürworter der neuen Verträge mit der EU. Den Gegnern aus der Wirtschaft wirft er vor, alles ihrer «Gesinnung» unterzuordnen.

Namhafte Unternehmer stellen sich gegen die neuen Verträge mit der EU, während die Befürworter kaum sichtbar sind. Will die Wirtschaft das Vertragspaket überhaupt? Für Kaspar Engeli gibt es daran keinen Zweifel. Er ist Direktor des Verbands Handel Schweiz, dem 3500 Unternehmen mit 700’000 Arbeitsplätzen angeschlossen sind. Im Interview sagt er, warum es aus seiner Sicht keine Alternative zum Vertragspaket gibt und was er vom Bürokratie-Einwand hält.
Die Schweiz und die EU haben sich auf ein Vertragspaket geeinigt. Nun geht es auch beim Lohnschutz voran. Aber niemand scheint so richtig begeistert zu sein. Sie schon, Herr Engeli?
Es gibt tatsächlich Grund zur Freude. Der Bundesrat hat seine Ziele punktgenau erreicht. Die EU ist der Schweiz in den zentralen Punkten stark entgegengekommen. Mit dem Vertragspaket ist es möglich, den bilateralen Weg weiterzuführen und den Zugang zum EU-Binnenmarkt zu behalten. Ich bin auch zuversichtlich, dass die innenpolitische Einigung zwischen den Sozialpartnern gelingt. Diese Gespräche hat der Bundesrat ebenfalls sehr konstruktiv begleitet.
Was wären die Folgen, wenn das Vertragspaket scheitert?
Wir würden den privilegierten Zugang auf den europäischen Binnenmarkt schrittweise verlieren. Dann drohen britische Verhältnisse. Mit dem Unterschied, dass es uns noch härter treffen würde als Grossbritannien nach dem Brexit. Das wäre fatal.
Grossbritannien ist aus der EU ausgetreten. Die Schweiz würde bloss keine neuen Verträge abschliessen. Lässt sich das tatsächlich vergleichen?
Ja, die Schweizer Wirtschaft würde massiv leiden. Ohne Zugang zum Binnenmarkt würde der Export erschwert. Auch der Import ginge zurück, mit negativen Folgen für die Versorgungssicherheit. Die gegenseitige Anerkennung von Zertifikaten und Zulassungen müsste für jedes Produkt und jedes Land einzeln geregelt werden – mit grossem Aufwand und hohen Kosten.
Was würde das für die Konsumentinnen und Konsumenten bedeuten?
Die Produkte im Regal wären teurer. Manche würde es in der Schweiz gar nicht mehr geben, etwa bestimmte Medizinalprodukte. Auch würde Fachpersonal fehlen, zum Beispiel in der Gesundheitsversorgung und in der Industrie. Die Haltung, die EU solle schauen, wie sie ohne die Schweiz zurechtkomme, entspringt einer verzerrten Wahrnehmung der Realität. Sie erinnert mich an ein britisches Bonmot, das aus den 1930er-Jahren stammen soll: «Über dem Kanal ist dichter Nebel, Europa ist isoliert.»
Welche Brexit-Parallelen befürchten Sie konkret?
In Grossbritannien haben vor dem Brexit 120’000 KMU ihre Produkte direkt in die EU exportiert. 20’000 haben diesen Export komplett eingestellt. 25 Prozent der KMU sind dort im Export tätig. In der Schweiz sind es 40 Prozent. Unsere Wirtschaft ist also viel exportabhängiger. Die Folgen wären entsprechend noch schlimmer. Es wäre ein schleichender Prozess. Am ersten Tag nach der Abstimmung würde noch nicht viel passieren. Aber dann würden die Verträge erodieren. Das Gefährliche ist: Wir meinen, der heutige Zustand sei normal. Aber so würde es nicht bleiben.
Dienen die neuen Verträge also primär dazu, eine Verschlechterung zu verhindern?
Keineswegs, sie sind auch die Basis für wichtige neue Abkommen. Dank den Bilateralen muss die Schweiz nicht EU-Mitglied werden und kann trotzdem stark von der EU profitieren. Das wird immer wichtiger.
Dem Verband Handel Schweiz sind 34 Branchenverbände mit rund 3500 Firmen angeschlossen. Befürworten tatsächlich alle die Verträge?
Zum Handel zählen 700’000 Arbeitsplätze – 15 Prozent aller privaten Stellen. Die eine Hälfte im Detailhandel, die andere Hälfte im weniger sichtbaren Grosshandel. Das ist der Lebensnerv der Schweiz. Natürlich gibt es Abweichungen bei den Positionen. Wir sind uns aber weitgehend einig, dass der Freihandel und der bilaterale Weg für die Schweiz zentral sind.
Für welche Unternehmen sind die Verträge besonders wichtig?
Von den 3500 Firmen sind über 95 Prozent importierende Grosshändler. Sie beliefern etwa die Pharmaindustrie oder die Autozulieferer und haben ein vitales Interesse am hindernisfreien Handel. Für diese Unternehmen sind die Bilateralen ureigene Interessenpolitik der Schweiz. Und davon profitiert die ganze Bevölkerung – durch tiefere Preise und mehr Steuereinnahmen.
Es gibt auch namhafte Unternehmerinnen und Unternehmer, die die Verträge ablehnen. Dazu zählen Magdalena Martullo, CEO der Ems-Chemie, oder Alfred Ganter von der Partners Group. Warum kommen sie zu einem anderen Schluss?
Diese Leute haben eine ausgeprägte Gesinnung, der sie alles andere unterordnen. Vielleicht sind ihre Firmen auch weniger betroffen als andere, da sie Niederlassungen in der EU haben und weltweit agieren. Als Milliardär ist man wahrscheinlich ohnehin in einer etwas anderen Position als beispielsweise ein KMU.
Ist das Vertragspaket aus Ihrer Sicht alternativlos?
Natürlich ist die Schweiz nach dem Nein zum EWR 1992 nicht untergegangen. Aber wir hatten danach wirtschaftlich zehn schwierige Jahre. Ab 2002 und mit den Bilateralen holte die Schweiz wieder auf. Jetzt wird dieser Erfolgsweg infrage gestellt – ohne dass die Gegner eine Alternative haben.
Als Alternative wird oft ein Freihandelsabkommen genannt. Warum reicht das nicht?
Weil man mit einem Freihandelsabkommen keinen Zugang zum Binnenmarkt hat. Mit dem Vertragspaket dagegen werden wir behandelt, als wären wir Teil der EU – ohne Mitglied sein zu müssen. Das ist ein unglaublicher Vorteil: Eine Schweizer Firma kann etwas bauen – eine Maschine zum Beispiel – und es in den gesamten EU-Raum exportieren. Nach Schweizer Normen, ohne Bewilligungen.

Unternehmer im Lager der Gegner kritisieren die Brüsseler Bürokratie und Regulierungswut. Gibt die Schweiz nicht einen Standortvorteil auf, wenn sie EU-Regeln übernehmen muss?
Noch mal: Ein Schweizer Unternehmen kann eine Maschine nach Schweizer Normen und ohne Bewilligung exportieren. Die Verträge bringen in erster Linie weniger Bürokratie! Und Bürokratie kennen wir im Übrigen auch in der Schweiz. Die EU hat ihre Fehler, und wir werden ja auch nicht Mitglied. Aber bei den Bilateralen geht es um uns, die Schweiz. Wir machen das in unserem ureigenen Interesse.
Die Gegner sprechen von einem Unterwerfungsvertrag.
Die Gegner verwenden dieses bedrohliche Vokabular in der Europapolitik seit Jahrzehnten. Unterwerfung, Unterjochung, fremde Vögte – das ist ein Vokabular aus dem Mittelalter. Von Unterwerfung kann keine Rede sein. Die Schweiz verpflichtet sich bei den Marktzugangsabkommen zur dynamischen Rechtsübernahme. Sie kann aber auch Nein sagen. In diesem Fall kann es zu verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen kommen. Es fällt mir allerdings schwer, mir eine Regel vorzustellen, die für die Schweiz wirklich problematisch wäre.
Zu den Argumenten der Gegner gehört auch die Zuwanderung. Wie kontern Sie?
Die Zuwanderung können wir mit dem vorliegenden Vertragspaket besser steuern als heute. Dazu dient die Schutzklausel.
Allerdings muss erst noch definiert werden, wann genau die Schutzklausel greifen würde. Womit rechnen Sie?
Klar ist, dass dabei vieles berücksichtigt werden muss. Wenn wir weiterhin eine so hohe Zuwanderung haben wie heute, kann es zu einer Aktivierung der Schutzklausel kommen. Aber es ist auch möglich, dass wir in ein paar Jahren händeringend nach Arbeitskräften aus dem EU-Raum suchen. Wahrscheinlich werden auch volkswirtschaftliche Parameter eine Rolle spielen, etwa die Arbeitslosigkeit.
Manche Branchen suchen jetzt schon händeringend nach Arbeitskräften. Und trotzdem wird die Zuwanderung von vielen als Problem wahrgenommen.
Wir müssen uns auch fragen, welche Ansprüche wir haben. Natürlich können wir sagen: Wenn eine Firma nicht genügend Arbeitskräfte findet, soll sie auf Aufträge verzichten – und wir sollen auf Wachstum verzichten. Dann müssen wir aber auch Abstriche bei unserem Lebensstandard in Kauf nehmen. Ich möchte daran erinnern, in welcher geopolitischen Situation wir gegenwärtig sind, etwa mit den drohenden Zollkriegen durch US-Präsident Trump. Brauchen wir tatsächlich noch mehr Unsicherheit?
Derzeit wird darüber gestritten, ob für die Abstimmung neben dem Volksmehr auch das Ständemehr verlangt werden soll. Ist der Entscheid nicht von so grosser Tragweite, dass auch die Stände zustimmen müssten?
Ich bin ein Freund des regelbasierten Handelns. Staatsrechtlich ist die Sache klar: Es ist ein Fall für ein fakultatives Referendum ohne Ständemehr. Ich hoffe sehr, dass das Parlament nicht aus politischen Gründen anders entscheidet.
Die Volksabstimmung ist noch weit weg. Warum gehen Sie schon jetzt in die Offensive?
Wir dürfen das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren. Es geht um einen zentralen Baustein unseres Wohlstands. Man muss es einfach einmal klar sagen: Für die Schweiz ist der bilaterale Weg ein Glücksfall.
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