Der Nabel der Stadt

Die abgeschottete spanische Enklave Ceuta an der marokkanischen Mittelmeerküste besitzt eine neue Bibliothek. Sie dient als Treffpunkt und erzählt die schwierige Geschichte der Stadt.

Brigitte Kramer
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Wie ein grauer Schiffsrumpf im Häusermeer – die neue Biblioteca Pública der spanischen Enklave Ceuta wurde zwischen 1997 und 2014 von Angela García de Paredes und Ignacio García Pedrosa realisiert. (Bild: Fernando Alda)

Wie ein grauer Schiffsrumpf im Häusermeer – die neue Biblioteca Pública der spanischen Enklave Ceuta wurde zwischen 1997 und 2014 von Angela García de Paredes und Ignacio García Pedrosa realisiert. (Bild: Fernando Alda)

Ihr letztes freies Grundstück hat die Stadt Ceuta einer öffentlichen Bibliothek überlassen. Das weckt Sympathie. Schon bei der Anfahrt über die Meerenge von Gibraltar entdeckt man sie am Horizont, die Biblioteca Pública de Ceuta. Kurz vor dem Anlegen im Hafen kann man sie dann genau erkennen. Ein mit Aluminium verkleideter, schiffsrumpfähnlich abgeschrägter Baukörper ragt in den Himmel. Das Gebäude ist kaum grösser oder höher als seine Nachbarn. Aber es sticht trotzdem hervor. Denn keines der anderen Häuser besitzt eine derart homogene Fassade. Die meisten haben unterschiedlich geformte Fenster, farbig getünchte Fassaden, Aufbauten und Antennen. Sie schaffen ein Gewimmel, in welchem das Gebäude des Madrider Architektenpaares Ángela García de Paredes und Ignacio García Pedrosa einen Ruhepol bildet. «Wir wollten Einheit vermitteln», sagt Ángela Paredes, «Einheit und Geborgenheit.»

Oase am Meer

Beides braucht die umzäunte Stadt. Sie gehört zu Spanien, liegt aber an Marokkos Nordspitze. Ein doppelter, acht Kilometer langer und sechs Meter hoher Drahtzaun umgibt sie auf der dem Meer abgewandten hinteren Seite, dort, wo Ceuta Marokko den Rücken zeigt. Schwarzafrikanische Immigranten versuchen diese Grenze nach Europa zu überwinden, schaffen es immer wieder und landen dann im Flüchtlingslager. Die vom Mittelmeer umgebene Hafenstadt liegt auf einer schmalen Landspitze. Sie ist beeindruckend schön, lebendig und ungewöhnlich. Und sie hat etwas Tragisches, denn sie ist ein Relikt aus der Kolonialzeit. 85 000 Menschen leben hier. Fast die Hälfte sind Muslime. Gebetsrufe und Glockengeläut wechseln sich ab, es gibt Teestuben und Tapas-Bars. Und über allem kreisen lärmend die Möwen.

Ceuta ist nur zwanzig Quadratkilometer gross. Deshalb hat die Stadt keinen Flugplatz. Er hätte nirgends Platz. Die Besucher kommen mit dem Schiff aus Andalusien. Man legt in Europa ab und erreicht fünfzig Minuten später die afrikanische Küste. Diese Reise haben Paredes und Pedrosa, beide 55 Jahre alt, wohl an die achtzigmal unternommen, wie sie schätzen. Bereits 1997 hatten sie den öffentlichen Wettbewerb des spanischen Kulturministeriums gewonnen. Aber erst zehn Jahre später konnten sie mit dem Bau der Biblioteca Pública beginnen. Vor wenigen Monaten wurde er fertig. Eingeweiht ist die Bibliothek aber noch nicht, auch wenn es in allen Etagen von Menschen wuselt. «Die Stadt konnte die Bibliothek nicht länger geschlossen halten», erklärt Ignacio Pedrosa, «der Bedarf war einfach zu gross.»

Die Stadt hat viele Probleme. Sie hat Spaniens höchste Schulabbrecherquote und das geringste Bildungs- und Einkommensniveau. Fast vierzig Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos. Viele Familien leben in beengten Verhältnissen. Es herrscht eklatanter Wohnungsmangel, denn Ceutas Grundstücke sind entweder bebaut, oder sie gehören dem Militär, das auf der Halbinsel grosse Präsenz zeigt. Deshalb verbringen viele Ceutís ihre Nachmittage in der Bibliothek. Im gefilterten Sonnenlicht der hellen Säle lesen sie oder lassen den Blick durch die grossen Fenster über ihre Stadt schweifen. Studenten, Arbeitslose oder Immigranten nutzen den kostenlosen Internetzugang. Nachmittags kommen Familien mit Kindern zum Lesen und Spielen, zum Musikhören und zum Filmesehen. Es gibt mehr als siebzig Multimedia-Tische mit Kopfhörern.

Paredes und Pedrosa wussten, was die Stadt braucht. Sie haben nicht nur eine Bibliothek, sie haben eine Oase geschaffen in einer Stadt, in der «man unter ständigem Druck lebt», wie José Antonio Alarcón sagt. Der 52-jährige Historiker leitet die Biblioteca Pública. «Wir öffnen unsere Räume allen Bevölkerungsgruppen», sagt er. Er programmiert jüdische Kulturtage, Lesungen mit Autoren aus Madrid oder Valencia, Ausstellungen zur Geschichte der Stadt, bietet Vorträge, Konzerte, Filmvorführungen. Alles kostenlos.

Bildung und Kultur sind in Ceuta Luxus. Licht hat die Stadt dagegen im Überfluss. Die Madrider Architekten haben beides vereint. Seit 24 Jahren betreiben sie mit einer Handvoll Mitarbeitern ihr Studio. In dieser Zeit haben sie nicht viel mehr als ein Dutzend Gebäude errichtet – darunter ein Theater und ein Wohnhochhaus in Madrid, zwei Kongresszentren in Castellón und in Murcia, das Archäologiemuseum von Almería und ein Polizeigebäude in Sevilla. «Ich glaube, dass alle unsere Arbeiten intensiv sind», sagt Ignacio Pedrosa. «Im Fall von Ceuta aber ist das besonders deutlich: Eine Stadt mit diesen geografischen und topografischen Besonderheiten hat nichts Konventionelles verdient.»

Zwei Fassaden umschliessen den Innenraum, eine äussere, perforierte aus Aluminium und eine innere aus Sichtbeton und Glas. Im Gebäudeinneren findet man keine schmalen Gängen zwischen hohen Regalen, keine dunklen Ecken und Winkel, keine Wände voller Bücher. Die hüfthohen Bücherregale sind im Raum verteilt oder stehen an den Wänden, die den Fassaden gegenüberliegen. Dort, an den Aussenwänden, befinden sich die Lesetische. «Durch die Doppelfassade sind die Lichtverhältnisse ideal zum Lesen bei Tageslicht», betont Ángela Paredes, «und die Nutzer sind vor Blicken von aussen geschützt – wie durch einen Schleier.» Die grossen Glasscheiben bieten eine atemberaubende Sicht auf die Stadt, das Meer und die gegenüberliegende Küste. Gibraltar liegt rund dreissig Kilometer entfernt. «Ceuta und Gibraltar blicken sich an», sagt Paredes, «die Küste scheint diesseits wie jenseits der Meerenge dieselbe zu sein, es ist, als sähe man ein Spiegelbild.» In der Antike bedeuteten die beiden Felszungen – die Säulen des Herakles genannt – das Ende der Welt.

Von aussen wirkt das kompakte Gebäude eher klein, trotz seinen zehn Etagen. Es steht auf einem tausend Quadratmeter grossen, abschüssigen Gelände in einem dicht bebauten, zentralen Stadtteil. Die Fassaden müssen fünfzehn Meter Höhenunterschied ausgleichen. Um dieses Gefälle zu überwinden, hat das Architektenpaar einen facettierten Sockel aus Sichtbeton entworfen, auf dem die Fassaden ruhen. Er vermittelt zwischen der Schräge der Strasse und den horizontal gegliederten Wänden. Im Nachhinein bezeichnen die Architekten die schwierige Lage als Chance. Sie macht das neun Millionen Euro teure Gebäude zu einem herausragenden Beispiel für den Umgang mit Einschränkungen. Noch eine andere Herausforderung haben Paredes und Pedrosa gemeistert: Auf dem Gelände befinden sich die Ruinen einer mittelalterlichen maurischen Wohnanlage. Die Fundstätte war in den 1990er Jahren entdeckt, aber wieder zugeschüttet worden. Jetzt sollte sie ins Gebäude integriert werden. «Wir wollten die Ausgrabung auf keinen Fall in einem Keller verstecken», erzählt Ángela Paredes, «sondern sie ins Zentrum unseres auf Pfeilern ruhenden Gebäudes stellen.»

Foyer mit maurischen Ruinen

Tatsächlich sind die sandfarbenen Ruinen das Erste, was der Besucher nach dem Betreten der Bibliothek sieht. Sie dehnen sich ebenerdig im Eingangsbereich neben Empfangstheke und Aufzug in einem offen, drei Etagen hohen Raum aus. Man kann sie betreten und von einer Galerie im ersten Stock aus von oben betrachten. Huerta Rufino heisst die Anlage, in der einst wohlhabende Handelsleute berberischer Herkunft lebten. Ausstattung und Gestaltung der Häuser deuten auf einen hohen Lebensstandard, man kann Kanäle der Fussbodenheizung, grosszügig angelegte Räume, Zimmerbrunnen und prunkvolle Wandkeramik erkennen. Von solchen Wohnverhältnissen können die meisten Ceutís heute nur träumen. «Eine neue Art des Zusammenlebens» nennen die Architekten die Integration der Ruinen in ihren Entwurf. «Sie kann uns zum Nachdenken bringen über die Geschichte der Stadt und die Wurzeln ihrer Bewohner.» Davon erzählen auch die 140 000 Dokumente, die im Archiv aufbewahrt werden. Sie erhellen sechshundert Jahre der aufregenden und unruhigen Geschichte eines kleinen, geostrategisch wichtigen Landzipfels. Die Bibliothek gehört nun dazu. Sie ist der neue Nabel der Stadt. Sie birgt alles, was Ceuta ausmacht, den Blick in die Tiefe und den Blick in die Ferne. Fünfzehn Jahre haben die Städter für ihre Bibliothek gekämpft. Sie war die letzte im Netz der Stadtbibliotheken, das Spanien seit den 1980er Jahren realisiert hat. Als neues Symbol deuten sie ihre Erbauer nicht. «Die Bibliothek leistet einen Dienst am Menschen, sie ist etwas Grundlegendes und Wichtiges, mehr nicht», sagen Ángela Paredes und Ignacio Pedrosa.