Schwerhörigkeit im Selbstversuch : Sag im Zweifel einfach Ja
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Das Ohr als Kunstwerk: Dieses Exemplar ist eine 3D-gedruckte Nachbildung des Ohrs von Vincent van Gogh, zu sehen in Karlsruhe. Bild: AFP
Dank moderner Medizin ist Schwerhörigkeit nur noch selten ein unabwendbares Schicksal. Das Buch eines Betroffenen zeigt sogar Vorzüge des Taubseins. Wie ist es, schwerhörig zu sein?
Dieses Buch hat mich beeindruckt, bei Kapitel acht bekam ich Gänsehaut. Ach was! Es hat von Anfang an mein Leben verändert. Zumindest wollte ich das. Ich las es als Einladung auszuprobieren, wovon es handelte. Ohne Appell des Autors ist „Taube Nuss“ – gerade ist die zweite Auflage bei Rowohlt erschienen –, eine Aufforderung zur Selbsterfahrung. Im achten Kapitel beschreibt Alexander Görsdorf nämlich noch nicht, wie er mit einem Cochleaimplantat zu hören lernte und die Welt neu entdeckte. Er beginnt stattdessen über den „schmerzlich schönen“ der „wenigen Vorteile in meinem zunehmend schwerhörigen Leben“ zu schreiben – die Stille.
Man wünscht sie niemandem mit Gehör und Verstand. Experimente in schalltoten Räumen haben gezeigt, wie kurz der Weg von der Stille zum Wahnsinn ist. Aber Görsdorf, der auch mit einem Tinnitus rang, schrieb weiter über eine „neue Begleiterin“, die nicht einfach auf Knopfdruck zu haben war, weil ein ausgeschaltetes Hörgerät eben nicht reicht. Es geht um die Ruhe. „Ich musste mich um sie bemühen“, schreibt er, Gelassenheit und Heiterkeit seien ihre Bedingungen.
Das elektrische Hören eines Cyborgs
Görsdorf zögerte lange, ehe er sich entschied, sein Leben zu ändern. Dank eines schwerwiegenden medizinischen Eingriffs hört er nun „elektrisch“. Er bezeichnet sich selbst als Cyborg und ist abhängig von Technologie in seinem Kopf. Er braucht ständig Strom. Man will mit ihm nicht tauschen. Aber man möchte die Welt und sich selbst einmal so erfahren, wie er es schildert.
Sein Buch besteht aus Anekdoten, erlebt und erlitten wegen des „Abonnements für Merkwürdiges und Absurdes“, das mit der Schwerhörigkeit einhergeht. Doch allem steht eine überraschende Prämisse voran: Seit einer typischen, aber misslungenen Jugenderfahrung mit Mädchen am Lagerfeuer sagt Görsdorf im Zweifel „Ja“, statt sich zurückhaltend aus Affären zu ziehen, in denen er noch gar nicht steckt. Trotz aller Hürden führte ihn dieser Weg bis zur Promotion in Harvard.
Also los. Was man für die eigene Schwerhörigkeit braucht, ist Pfennigware. Ohrstöpsel aus Schaumstoff, die mehr als 30 Dezibel dämpfen, oder wie Görsdorf es sagen würde, wenn er vom Lärm als „Dreck“ spricht, säubern. Das künstliche Leben und die Suche nach Ruhe beginnen mit verstopften Ohren, um einen Sinn zu betäuben, der sich nicht dem Willen unterwerfen lässt. Nur ist anders als beim Tastsinn keine Kleidung vorgesehen. Was man daher sofort spürt, ist auch Görsdorfs prägende Erfahrung: „Schwerhörigkeit sieht man nicht“, man fühlt sich nur nackt.
Als ich das erste Mal mehrere Stunden mit tauben Ohren Zug gefahren bin, wähnte ich mich schon am Ziel. Nie zuvor bin ich während einer Fahrt eingeschlafen. Die Ruhe trotz Hochgeschwindigkeit hatte ohne weiteres Zutun eine meditative Wirkung. Doch wie sonderbar war es, schwerhörig in Hannover das Gleis zu wechseln. Das übliche Gefühl, aus einem ohnehin ruhigen Zug für wenige Minuten in ein Getümmel zu stürzen, stellte sich diesmal nicht ein. Es blieb leise. Aber die Gelassenheit wich einer neuen Wachsamkeit.
Görsdorf schreibt darüber, dass etliche Tage seines Lebens aus „stummen Dabeistehen und stoischem Lächeln, vorzeitigen Abgängen und gar-nicht-erst-Hingehen“ bestanden. Das ließ sich nun gut verstehen. Plötzlich schwerhörig, lässt sich nämlich fast nichts mehr erledigen. Einkaufstempel als „kulturelle Errungenschaften“ zu beschreiben, weil sie „Gleichmacherei und Interaktionsvermeidung“ garantieren – diese im Grunde traurigen Worte Görsdorfs ergaben nun Sinn. Man will sich ungestört und selbst um sich kümmern können. Doch nur die Konformität gewährt die dafür notwendige Freiheit. Alles andere birgt die Gefahr, sich in Situationen zu verstricken, die man nicht versteht und ständig mit „abstrusen Reparaturaktionen“ befasst zu sein.