Konzepte statt Fassaden

Berühmt wurde der vor 70 Jahren in Lausanne geborene Architekt Bernard Tschumi mit den Folies im Parc de la Villette in Paris. Nun stellt er sein Œuvre in einer grossen Pariser Schau zur Diskussion.

Roman Hollenstein
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Dekonstruktivistisches Schlüsselwerk – der durch Folies und Passerellen akzentuierte Parc de la Villette von Bernard Tschumi in Paris. (Bild: Sophie Chivet / AGENCE VU / KEYSTONE)

Dekonstruktivistisches Schlüsselwerk – der durch Folies und Passerellen akzentuierte Parc de la Villette von Bernard Tschumi in Paris. (Bild: Sophie Chivet / AGENCE VU / KEYSTONE)

Gegen den formalistischen Fassadenzauber der postmodernen Baukunst rebellierten in den 1980er Jahren einige Wilde, die sich – inspiriert von Jacques Derridas poststrukturalistischer Philosophie und dem sowjetischen Konstruktivismus – die Zerschlagung traditioneller architektonischer Formen zum Ziel gesetzt hatten. Über die Fachkreise hinaus bekannt wurden sie als Verfechter der dekonstruktivistischen Architektur anlässlich der gleichnamigen, von Philip Johnson und Marc Wigley im Sommer 1988 kuratierten Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art. Gebaute Werke konnte ausser Frank Gehry noch kaum einer der Teilnehmenden vorweisen. Zaha Hadid überraschte mit ihren gezeichneten und gemalten Raumexplosionen für den Hongkong Peak, während Rem Koolhaas mit theorielastigen Studien und Projekten für Irritation sorgte. Bernard Tschumi präsentierte die Entwürfe des Parc de la Villette, eines von Mitterrands Grands Projets, das seit 1986 aus Spargründen auf Eis gelegt und damals in seiner definitiven Ausführung noch ungewiss war.

Dekonstruktivistische Ikone

Mit dem künstlerisch-konzeptuellen, der gängigen Planung diametral entgegengesetzten Villette-Projekt hatte sich Tschumi Ende 1982 zu seiner eigenen Überraschung gegen mehr als 700 Konkurrenten durchgesetzt und zusammen mit Koolhaas und acht Landschaftsarchitekten die Endrunde des Wettbewerbs für die Gestaltung des Pariser Parks erreicht. Während Koolhaas den gut 50 Hektaren grossen Grünraum in thematische Streifen aufteilte, wählte Tschumi ein System von Punkten, Linien und Flächen, um die künftige Freizeitlandschaft zu gliedern und die architekturhistorisch bedeutende Grande Halle aux Bœufs organisch einzubinden. Clou seines Entwurfs waren die knallroten, punktförmig auf einem Quadratraster über die Arealfläche verteilten konstruktivistischen Folies, die durch ondulierende Brücken, Passerellen, Baldachine und Treppen miteinander verbunden werden sollten.

Kurz darauf bestimmte die Jury den exzentrischen Entwurf des vor siebzig Jahren, am 25. Januar 1944, in Lausanne geborenen Wahl-New-Yorkers Bernard Tschumi zur Ausführung. Verwirklicht wurde dieses Schlüsselwerk des architektonischen Dekonstruktivismus, das die Quintessenz von Tschumis theoretischen Forschungen darstellte, erst zwischen 1991 und 1998. Vorläufer waren die Ende der 1970er Jahre in New York und einigen europäischen Städten temporär errichteten «20th Century Follies», die eher Kunstwerken als Bauten glichen. Denn als Sohn des grossen Westschweizer Architekten Jean Tschumi sah Bernard Tschumi damals seinen Weg nicht in der Fortführung der formvollendeten Architektur seines Vaters, sondern in der kritischen Analyse der von fachfremden Interessen bedrängten Baukunst und fasste seine Haltung zusammen in der Frage: «N'est-ce pas le concept et non la forme qui distingue l'architecture d'une simple bâtisse?»

Vom Theoretiker zum Architekten

Es erstaunt daher nicht, dass ihn nach dem Studium an der ETH Zürich die avantgardistisch-experimentelle Architectural Association in London lockte, an der er von 1970 bis 1980 unterrichtete und seine theoretischen Arbeiten vorantrieb: die später für das Villette-Projekt so wichtige Studie «Juicy's Garden» und die gleichzeitig mit Rem Koolhaas' «Delirious New York» entwickelten, aber erst 1981 publizierten «Manhattan Transcripts», die in parallelen Bildstreifen von Raum, Ereignis und Bewegung handelten. Diese diagrammartigen Sequenzen von Bildern, Plänen und Aufrissen, die stark beeinflusst waren von Sergei Eisensteins Notationen, Bob Wilsons Inszenierungen und Robert Longos «Men in the Cities», machten ihn zum Vordenker des architektonischen Dekonstruktivismus, aber auch zum baukünstlerischen Vermittler zwischen französischer und angelsächsischer Welt. Anders als der seiner journalistischen Herkunft wegen zur Synthese neigende Koolhaas stürzte sich Tschumi schon damals auf die Analyse der architektonischen Elemente. Daraus resultierte eine Architektur der Bewegung und nicht der Fassaden – ganz nach Tschumis Credo: «Les vecteurs activent, les enveloppes définissent.»

Im Jahre 1980 übersiedelte Tschumi nach New York, wo er zunächst an der Cooper Union und dann an der Columbia University unterrichtete, deren Architekturschule er von 1988 bis 2003 als Dean leitete. Dort richtete er sein Architekturbüro mit dem Ziel ein, seine kritischen Ideen auch baulich umzusetzen. Auf das preisgekrönte Villette-Konzept folgten zwischen 1986 und 1991 die legendären Wettbewerbsentwürfe für das Nationaltheater in Tokio, den Kansai-Flughafen in Osaka, die Bibliothèque de France in Paris, das Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe und die Kyoto Railway Station. Daneben plante er für Lausanne das aus vier bewohnten Brücken bestehende, das Vallée du Flon an die höher gelegenen Stadt anbindende «Ponts Ville»-Projekt, von dem jedoch nur der mehrgeschossige Verkehrsknoten des «Interface Flon» realisiert wurde.

Entscheidend für Tschumis Weg vom künstlerisch agierenden Theoretiker zum praktizierenden Architekten aber war das 1997 vollendete Kulturzentrum Le Fresnoy im nordfranzösischen Tourcoing, wo er in einer Art gigantischer Collage alte, sanft renovierte Fabrikhallen mit einer stählernen Dachkonstruktion überformte und im so entstandenen «In-Between» ein Erschliessungsgewirr aus schwebenden Passerellen und Infrastrukturanlagen schuf, das an Piranesis «Carceri» gemahnt. Ein ähnliches Bewegungstheater inszenierte Tschumi danach hinter dem riesigen, von traditionellem Mauerwerk gefassten Glasvorhang des Lerner Student Center der Columbia University. Seither sind eine Vielzahl von Bauten für Kultur und Wirtschaft, ja sogar ein Wohnhochhaus entstanden. Eine sachliche Zusammenfassung seines Schaffens fern aller dekonstruktivistischen Spielereien bot Tschumi 2009 beim Athener Akropolis-Museum, das er dank einem auf die Villette-Rasterstruktur verweisenden Stützensystem über neu entdeckten Ruinen schweben lässt, während ein mehrfach die Richtung ändernder, an eine Kamerafahrt erinnernder Weg durch die Ausstellungsebenen hinauf zum Glaskasten führt, in welchem die Parthenon-Skulpturen mit dem Tempel auf der Akropolis einen stillen Dialog führen dürfen.

Konzeptualisierung des Kontexts

All diese Werke und einige mehr vernetzt die Tschumi-Retrospektive des Pariser Centre Pompidou in fünf Kapiteln. Am Anfang der das Villette-Raster frei variierenden Inszenierung geht es um Tschumis «Manifeste», zu denen die mit künstlerischem Originalmaterial – Skizzen, Collagen und Gemälde – veranschaulichten frühen Schriften ebenso zählen wie der Parc de la Villette. Unter dem Titel «Programm, Nebeneinanderstellung, Überlagerung» werden die ersten, mit parallel angeordneten Volumen experimentierenden Wettbewerbsentwürfe, aber auch das Lausanner Flon-Projekt von 1988, der fast zeitgleiche Glaspavillon von Groningen und das Kulturzentrum in Tourcoing vorgestellt. Die Aspekte von «Vektor und Hülle» werden mit den formal identischen, in der Detaillierung der Gebäudehaut jedoch unterschiedlichen Zénith-Veranstaltungshallen in Rouen (2001) und Limoges (2007) thematisiert, vor allem aber mit dem eleganten Hauptsitz von Vacheron Constantin in Genf, bei dem eine arabeskenartig gekurvte Metallhülle die Büros mit den Produktionsstätten verbindet und so das gängige Fassadenbild durch eine organische Gesamtform ersetzt.

Den Übergang vom Dekonstruktivismus zum heutigen Pragmatismus markiert die Abteilung «Konzept, Kontext, Inhalt», in der Tschumi, ausgehend von Marcel Duchamps Readymades, seine Vorstellungen einer die finanziellen, politischen und kulturellen Einschränkungen des Projekts überwindenden «Konzeptualisierung des Kontexts» oder «Kontextualisierung des Konzepts» aufzeigt. Dies anhand der beiden inhaltlich verwandten, in der Ausführung aber unterschiedlichen Architekturschulen von Marne-la-Vallée und Miami, dem blauen Wohnturm in Manhattan, dem Akropolis-Museum oder der Ladenpassage in Den Haag. Zum Schluss veranschaulichen die «Formkonzepte», wie bei schwierigen topografischen Ausgangslagen – etwa beim gallorömischen Museum von Alésia, beim «Le Rosey»-Konzerthaus in Rolle (das im Herbst eingeweiht werden soll) oder beim Parc Zoologique in Vincennes – klare geometrische Formen die Lösungsfindung erleichtern können. So entwirft die inspirierende, von einem informativen Katalog begleitete Pariser Ausstellung erstmals seit der Rotterdamer Tschumi-Schau von 1997 ein gültiges Bild vom Schaffen des mehr an Inhalten und Abläufen denn an der Form interessierten Schweizers, dessen Bauten mit immer neuen Erscheinungsbildern überraschen.

Bis 29. Juli in der Galerie Sud des Centre Pompidou. Katalog: Bernard Tschumi. Architecture – concept & notation (frz./engl.). Hrsg. Frédéric Migayrou. Editions du Centre Pompidou, Paris 2014. 256 S., € 39.90.