Jonathan sitzt entspannt auf seiner Couch, sein Hemd ist grau gestreift, der Sofabezug grau meliert. Er lacht, seine Zähne strahlen weiß. Hinter ihm türmen sich Geschenkboxen, Parfums und Bilderrahmen auf einer Fünfziger-Jahre-Anrichte, auf einer Kleiderstange hängen seine Hemden. Darunter: Ein Kinderfoto zeigt "Jonathan mit fünf". Darunter: Nahaufnahmen von der Couch, den Kleidern, den Parfumflakons. Darunter: Jonathan steht in seiner Küche beim Espressokochen. Darunter: Bilder von Jonathan beim Spaziergang in Berlin-Mitte. Darunter, darunter, darunter.  

Warum Jonathan seine Wohnung, seine Kleider, seinen Geschmack und sich selbst in solcher Ausführlichkeit vor der Netzöffentlichkeit ausbereitet? "Sucht Boys", steht in der Ecke des ersten Fotos.       

Jonathan ist einer von derzeit 40 Singles aus Berlin und Hamburg, die die Website im gegenteil potenziellen neuen Lebensabschnittsgefährten in Form von Hochglanz-Homestorys präsentiert. Ein plaudernder Text dazu verrät etwa über Jonathan, dass der Berliner sonntagmorgens gern zum Tanzen in die Panoramabar geht.

Im Gegensatz zu Datingportalen wie Parship oder eDarling muss man sich bei im gegenteil nicht anmelden, um Kontakt mit den Porträtierten aufzunehmen. Bezahlen muss man auch nichts. Und vor allem: keine Fragebögen zu Vorlieben und Interessen ausfüllen. Die Site fragt nicht nach: Tierlieb? Reiselustig? Bodenständig? Nicht nach dem letzten Angelurlaub, nicht nach dem Lieblingsfilm, der Lieblingsfarbe und nicht nach der Lieblingskaffeesorte. 

Die Inszenierung entscheidet

Im gegenteil mischt stattdessen ein wenig vom Charme des im Netz so erfolgreichen Intim-Unprofessionellen unter eine Gestaltung, die Anleihe beim Untermietportal Airbnb, dem Wohnblog Freunde von Freunden und der Berufsjugendlichkeit von Neon nimmt. Das perfekte Schaufenster für ein an akribische Selbstinzenierung gewöhntes Milieu, findige Existenzbastler, talentierte Artdirektoren des Ich.

So groß wie seit jeher der Wunsch nach einem unkomplizierten, schnellen Konsum von Romantik und Begehren, scheint dann auch der Erfolg von im gegenteil. Im ersten Monat nach dem Start im November habe die Website eine halbe Million Seitenaufrufe verzeichnet, sagen die Gründerinnen Anni Kralisch-Pehlke und Jule Müller. Mehrere Hundert Singles aus dem ganzen deutschsprachigen Raum hätten sich seither beworben. Und kurz vor Weihnachten ging mit der Wiener Website fixzsam die erste Kopie online.  

Das komplementäre Gegenstück zu den aufwändig produzierten Homestorys ist die boomende Dating-App Tinder. Wo im gegenteil seine Singles sorgfältig ins vorteilhafteste Licht rückt, greift Tinder einfach auf den Bildervorrat des eigenen Facebook-Profils zu. Tinder zeigt jeweils nur wenige, briefmarkengroße Fotos von Singles in der eigenen Stadt, die Bewertung erfolgt per Wisch: "attraktiv" oder "unattraktiv", Wisch nach links, Wisch nach rechts. Die Auswahl nur nach Geschlecht und sexueller Orientierung potenzieller Dating-Partner funktioniert wie ein Computerspiel. Kommt es zum match, öffnet sich ein Chat-Fenster. Tinder verspricht Kennenlernen mit maximaler Barrierefreiheit: geliked, gechattet, geliebt.

Im September 2012 wurde Tinder, ähnlich wie einst Facebook, auf einem amerikanischen Unicampus gegründet. Seitdem verbreitet sich die App virusartig, 600 Millionen registrierte Nutzer hat Tinder weltweit, in Deutschland verdoppelt sich die Userschaft derzeit etwa alle drei Wochen. Auch Tinder verzichtet auf Fragen zu Vorlieben, Hobbys, Persönlichkeitsmerkmalen – was zählt ist der Look. Wer sich auf Facebook grölend mit Plastikbecher-Caipirinha zeigt, verrät etwas völlig anderes über sich als das Instagram-Bild mit dem besten Café au lait von Paris. Was dem einen die Schamesröte ins Gesicht treibt, findet der Nächste vielleicht gerade attraktiv.

So befreien die neuen Datingwerkzeuge das liebessuchende Selbst von den aufwändigen Portalen des digitalen Gestern. Zur Kernkompetenz der erfolgreichen Kontaktaufnahme wird die Fähigkeit, einem unbekannten Gegenüber die eigenen Lebenswelt vorzuführen. Um eine Chance auf Erfüllung zu haben, wird so noch die feinste Seelenregung, der intimste Wunsch eng an den hochfrequenten Welthandel der Bilder, Zeichen und Erzählungen angeschlossen. Kodieren und Dekodieren.

Mit den Rückmeldungen auf sein Porträt ist Jonathan übrigens ganz zufrieden, obwohl im gegenteil bisher in der schwulen Community noch wenig bekannt ist. Dates habe er zwar noch keine gehabt, das läge aber vor allem daran, dass er im Moment so beschäftigt sei.

Dieser Artikel wurde am 17. Februar nachträglich geändert.