Das Haus am Ende der Bomber-Startbahn

Estland beweist Mut beim Umgang mit seiner nicht immer einfachen Geschichte. Ein kühnes Museumsprojekt, fertig geworden zum hundertsten Jahrestag der Staatsgründung, legt davon Zeugnis ab.

Rudolf Hermann, Tartu
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Estlands neues Nationalmuseum ist ein futuristischer Bau an einem geschichtsträchtigen Ort. (Bild: PD)

Estlands neues Nationalmuseum ist ein futuristischer Bau an einem geschichtsträchtigen Ort. (Bild: PD)

«Die müssen hier noch etwas anpassen», sagt Kaarel Tarand und deutet mit der Hand auf einige Monteure, die sich an der Beleuchtung zu schaffen machen. «Wir bereiten uns nämlich auf einen grossen Anlass vor.» Der grosse Anlass, das ist die offizielle Feier zum hundertsten Jahrestag der Entstehung Estlands als selbständiger Staat am 24. Februar. Der Festakt findet im Foyer des nagelneuen estnischen Nationalmuseums statt, eines supermodernen, schnörkellosen und transparenten Baus aus Beton und Glas, der erst gut vor einem Jahr seine Tore geöffnet hat.

Keine Angst vor der Geschichte

Nicht alle der geladenen Gäste seien vom Ort des Anlasses begeistert, flüstert Tarand, der Pressechef des Museums. Sie sähen nicht ein, weshalb sie von der Hauptstadt Tallinn hierher nach Tartu kommen sollten, in Estlands zweitgrösste Stadt, wo das Nationalmuseum steht. Und dann steht es nicht einmal in der Stadt selbst, sondern auf einem weitläufigen Areal einige Kilometer ausserhalb.

Estland

Für Partylöwen mit vollem Terminkalender ist das zugegebenermassen etwas umständlich. Doch das Nationalmuseum ist nicht nur deshalb die richtige Lokalität für den symbolträchtigen Anlass, weil es von allen öffentlichen Gebäuden in Estland am meisten Gäste aufnehmen kann, wie Tarand stolz anmerkt. Vor allem erzählt es die Geschichte des jungen Staates in einer schillernden Vielfalt so, wie es kaum ein anderer Ort könnte.

Das beginnt mit dem Platz, wo das Gebäude steht: am Ende einer zerbröckelnden Betonpiste, die einst zur hochgeheimen sowjetischen Luftwaffenbasis Raadi gehörte. Der Bomber-Stützpunkt war im Kalten Krieg von solch grosser Bedeutung, dass er zu den Zielen der Nato für einen allfälligen Nuklearangriff zählte. Seinetwegen war Tartu zu Sowjetzeiten eine geschlossene Stadt.

Die fast fünfzig Jahre dauernde Besatzung Estlands durch die Sowjetunion ist damit ein Kapitel in der nationalen Geschichte, die das Museum bewusst nicht ausblendet, sondern allein schon durch seinen Standort aufgreift. Auch in der Sammlung wird kein Bogen gemacht um diese schmerzhafte historische Etappe. «Wir wollten das, was Estland ausmacht, nicht aus einer national gefärbten Perspektive darstellen», sagt Kristel Rattus, die leitende Kuratorin. «Sondern wir versuchten zu beleuchten, was im historischen Zusammenhang auf dem Gebiet Estlands geschehen ist und wie uns das als Volk definiert hat.»

Dieses Konzept, sagt Rattus, sei gerade bei der russischsprachigen Minderheit in Estland, die rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung von 1,3 Millionen Einwohnern ausmacht, auf ein sehr positives Echo gestossen. Denn mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wiederaufbau Estlands als Nationalstaat verlor diese ihre Position als gesellschaftlich bestimmendes Element und fand sich in der – für das russische Selbstbild ungewohnten – Rolle einer Minorität wieder, die sich ausgegrenzt fühlt.

Viele fremde Herren

«Wer wir sind und wo wir hingehören, das ist eine konstante Diskussion hier in Estland», sagt auch Kaarel Tarand, der Museums-Pressechef. Deshalb beschränke man sich auch nicht bloss auf die Darstellung ethnisch-estnischer Themen, sondern suche sich in den grösseren Zusammenhang der finnougrischen Sprachen- und Völkerfamilie zu stellen. Dabei blickt man zwar in erster Linie zum nördlichen Nachbarn Finnland, sucht aber auch die Verbindung zu den Völkern aus dem Ural, wo die Urheimat der Volksgruppe liegt.

In der Sowjetzeit, sagt Tarand, sei es ohnehin nicht möglich gewesen, Geschichte in einem estnisch-nationalen Zusammenhang nachzuzeichnen, weil die Esten als eigenständige und unabhängige Nation gar nicht hätten existieren dürfen. Hingegen habe man sehr wohl volkskundliche Untersuchungen zum Thema der Völker aus dem Ural anstellen können. Heute habe man deshalb eine der umfassendsten Sammlungen überhaupt auf diesem Gebiet.

Dass das estnische Nationalmuseum volkskundliche Akzente setzt, statt nationalistisch überhöhte Heldengeschichten zu präsentieren, ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass die Esten in ihrem eigenen Land über die letzten siebenhundert Jahre die meiste Zeit von jemandem beherrscht wurden – Ostseemächten wie Schweden und Dänemark, vom deutschbaltischen Adel und vom russischen Zarenreich und zuletzt von der russisch dominierten Sowjetmacht (siehe Zeittafel). «Die ethnisch-estnische Bevölkerung war deshalb sehr lange bäuerlich geprägt», sagt die Chefkuratorin Rattus.

Da mag es erstaunen, dass sich das kleine Land mit dem spektakulären Museums-Neubau nun ein relativ teures Symbol des «Nation-Building» geleistet hat; immerhin handelt es sich mit einem Kostenpunkt von rund 75 Millionen Euro um das teuerste öffentliche Projekt solcher Art seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Bezahlen musste es Estland allein. Um finanzielle Unterstützung hatte man in Brüssel zwar angesucht. Doch bei der EU fand man, dass die Lage am Rand von Tartu, einer Stadt mit bloss hunderttausend Einwohnern und damit abseits grösserer Besucherströme, keine gute Geschäftsidee sei.

Tartu – Hauptstadt des Geistes

Für Estland aber war klar, dass das neue Nationalmuseum nur hier stehen konnte. Denn während Tallinn zwar die mit Abstand grösste Stadt des Landes ist und unbestritten die Rolle des politischen und wirtschaftlichen Zentrums spielt, ist Tartu die Hauptstadt des Geistes. Von hier ging die nationale Wiedergeburt aus, und hier steht die einzige Universität Estlands. «Eine der ältesten und angesehensten im ganzen Baltikum zudem», sagt Tonu Lehtsaar, der amtierende Rektor, mit hörbarem Stolz in der Stimme.

Wie das Nationalmuseum spielt auch die Universität eine wichtige Rolle bei der Suche der Esten nach ihrer modernen Identität als – endlich – selbstbestimmtes Volk. Erhalt und Pflege der Sprache, gesprochen von nur knapp einer Million Menschen, sind dabei eine wesentliche Aufgabe. «Es gibt Experten», erklärt Lehtsaar, «die sagen, dass unsere Sprache gefährdet sein könnte, wenn die Anzahl der Sprecher des Estnischen unter die Zahl von 700 000 falle.» Gleichzeitig, sagt der Rektor, habe die Universität aber auch eine lange Tradition der Offenheit nach aussen, die man ebenfalls hochhalte.

Die eigene Identität zu pflegen, nun, da man das kann und darf, ist für Estland wichtig. Doch ebenso ist man sich darüber im Klaren, dass sich ein Kleinstaat grenzüberschreitender Vernetzung nicht entziehen kann, ja sogar existenziell auf sie angewiesen ist. Auch diese Tatsache spiegelt sich in der Geschichte des Nationalmuseums.

Dessen erste Heimstätte war auf dem Landgut Raadi gewesen, im Herrenhaus eines deutschbaltischen Adligen, der auch den Grundstein zur ethnografischen Sammlung gelegt hatte. Dessen Besitz ging 1918 auf den neugegründeten estnischen Staat über, fiel im Zweiten Weltkrieg aber der Verwüstung anheim und musste schliesslich dem sowjetischen Militärflugplatz weichen. Dass das neue Museum nun nicht von einheimischen Architekten entworfen worden ist, sondern von einem jungen Trio internationaler Akteure japanischer, französisch-libanesischer und italienisch-israelischer Herkunft, erscheint wie die logische moderne Fortsetzung des Wechselspiels von nationalen und äusseren Einflüssen, die das estnische Dasein schon immer geprägt haben.

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