Flaschenpost aus den siebziger Jahren

Als Max Frisch 1973 nach Berlin umzog, hielt er seine Beobachtungen, Alltägliches wie Intimes, in einem Journal fest. Zwanzig Jahre nach seinem Tod darf das Journal veröffentlicht werden. Wir bringen Auszüge daraus.

Max Frisch
Drucken
Freund, Gesprächspartner und Begleiter: Uwe Johnson (rechts) mit dem Ehepaar Frisch bei einem Ausflug an den Müggelsee in Ost-Berlin. (Bild: Judith Macheiner / Max Frisch-Archiv, Zürich)

Freund, Gesprächspartner und Begleiter: Uwe Johnson (rechts) mit dem Ehepaar Frisch bei einem Ausflug an den Müggelsee in Ost-Berlin. (Bild: Judith Macheiner / Max Frisch-Archiv, Zürich)

Aus Heft 1 [1973]

6. 2. Übernahme der Wohnung (Sarrazin Strasse 8) und Abend bei Grass. Nieren. [. . .]

9. 2. Das Bewusstsein, dass ich noch drei oder vier Jahre habe, brauchbare Jahre; aber es wird kein Alltagsbewusstsein, daher immer wieder Erschrecken. Vorallem beim Erwachen. Darüber ist mit niemand zu sprechen.

Warten auf Handwerker, ich kann nicht einmal lesen, gehe in der leeren Wohnung auf und ab, Hall der Schritte; Musik aus dem Transistor, dazwischen Sprache der DDR. Ich bin froh.

Gestern mit Uwe und Elisabeth Johnson in einem italienischen Restaurant hier in Friedenau. Es stimmt nicht, dass im Alter keine neue Freundschaft mehr entstehe.

Einer der vermeintlichen Gründe, warum ich nicht (oder nie lange) in Zürich wohne: weil dort zuviele mich kennen auf der Strasse, in einer Wirtschaft. Kaum eingetroffen in Berlin (Hotel Steinplatz) spricht ein Leser mich an, Beton-Ingenieur, der eben das frühe Tagebuch gelesen hat, alles übrige schon kannte; am andern Tag in der Bank für Handel und Industrie warte ich auf eine Telex-Antwort, aber zuvor kommt ein Herr, entschuldigt sich, dass man mich nicht sofort erkannt habe; kein Telex nötig. Danach ein junger Schlosser; als ich ihm den Namen anzugeben habe, fragt er: Sind Sie denn der Schriftsteller? Zum Lesen komme er ja nicht, sagt er, vielleicht später einmal. Dasselbe in einem Lampengeschäft, wobei [ich] immer den Namen umgekehrt angebe: Frisch, Max; erst als er das notiert hat, stutzt er: Der Verfasser von Gantenbein? Und in einem Antiquitäten-Laden setzt sich der Mann, ruft seine Frau, um ihr zu sagen: Das ist Max Frisch. Woher er den Namen denn kenne? Hören Sie mal, sagt er, wir lesen Sie. Der Mann kann sich kaum erholen, bedankt sich für meine leibhaftige Gegenwart in seinem überfüllten Laden. Ein Tapezierer fragt: Kommt wieder ein Stück von Ihnen? Als ich nochmals in den Lampen-Laden gehen muss, weil eine der Lampen nicht zu montieren ist, und nach hinten in die Werkstatt trete, um dem Techniker etwas anzugeben, sagt der Verkäufer: Der hat mehr von Ihnen gelesen als ich. Es freut mich zu sehen, wohin die Bücher gehen. [. . .]

12. 2. Uwe Johnson bringt ein kleines gerahmtes Bild, verpackt, zum Einstand in der neuen Wohnung. Was mag es sein? Am 5. 10. 1972, als ich den Kaufvertrag unterzeichnet hatte, überreichte er mir eine Mappe, enthaltend: Plan von Friedenau, eine lexikalische Notiz über Sarrazin, dessen Name diese Strasse trägt, eine kurze Historie über Friedenau, ein Formular für Postcheck-Konto, ein Formular für Telefon-Anmeldung. Ob ich die Wohnung, kaum eine Viertelstunde lang besichtigt, denn im Gedächtnis habe, fragte er und nötigte mich, jetzt den Grundriss auf ein Blatt zu zeichnen. Das geschenkte Bild heute: meine Grundrissskizze von damals, gerahmt, Zeichnung mit Filzstift, auf den ersten Blick wie eine inspirierte Handschrift, die ich nicht sofort erkenne; Fehler betreffend Vorraum und WC. [. . .]

17. 2. Ohne Vorsatz leben (was allerdings eine privilegierte Lage voraussetzt, ein Schlösschen, wie Herr de Montaigne es hatte, oder ein Checkbuch): es ist nicht ohne weiteres zu lernen. Eben das Bewusstsein, dass man in eine privilegierte Lage geraten ist, nötigt zu Vorsätzen. Eine lange Zeit meines Lebens, als ich nicht hungerte, aber ziemlich mittellos war, etwa so mittellos wie die grosse Mehrheit, interessierte mich die Gesellschaft überhaupt nicht, die Politik, die Utopie; mein soziales Engagement begann schleichend wie mein Wohlstand, der (das glaube ich mir wirklich) nie mein Ziel war, aber als fait-accompli mehr und mehr zu Vorsätzen nötigte, die den Sonder-Wohlstand nicht heiligen, aber als Mittel zum Zweck rechtfertigen. Das heisst nicht ohne weiteres, dass ich mir (und Leuten meiner Art) den Sozialisten nicht glaube. Im Gegenteil; aber auch das nicht ironisch gemeint: das gesellschaftliche Gewissen ist ein Luxus. Muss man sich diesen Luxus leisten? Der Vorsatz, etwas beizutragen zur Verbesserung dieser Gesellschaft, entspringt dem Bedürfnis nach Anstand – ich weiss nicht, was ich habe sagen wollen – Ohne Vorsatz leben . . .

[. . .]

Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte. Und mit der Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andere, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vorallem doch wieder ein Selbstschutz; ich schreibe nicht: Paul ist ein Arschloch. Punkt. Damit wäre ich ja ungerecht.

Weitere Auszüge morgen Samstag in der gedruckten Ausgabe und auf NZZ.ch

Zum Thema