Saran Camara hat in der Schweiz Asyl erhalten. Nun arbeitet sie zielstrebig darauf hin, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Saran Camara hat in der Schweiz Asyl erhalten. Nun arbeitet sie zielstrebig darauf hin, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Wie Flüchtlinge zu Unternehmern werden: «Ich will nicht ständig das Gefühl haben, dass mehr dringelegen hätte»

Eine 24-Jährige, die in die Schweiz geflüchtet ist, will hier ihr eigenes Unternehmen gründen. Unterstützung erhält sie von einem privaten Projekt. Dessen Ziel: Hochqualifizierte Flüchtlinge sollen sich nicht mit Hilfsjobs abfinden müssen.

Larissa Rhyn (Text), Karin Hofer (Bilder)
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Autos rauschen im Sekundentakt vorbei. Es ist 17 Uhr, Genf wird vom Feierabendverkehr förmlich überschwemmt. Doch für die 10 Personen, die sich in einem unscheinbaren Bürogebäude um einen Sitzungstisch versammelt haben, ist der Arbeitstag noch lange nicht vorbei. Sie diskutieren angeregt über den Verkehrslärm hinweg, der durch die dünnen, milchigen Fenster dringt. Oft werden sie sich nicht einig, doch zwei Dinge haben sie alle gemeinsam: Sie sind in die Schweiz geflüchtet oder migriert. Und sie wollen ihr eigenes Startup-Unternehmen gründen. Dafür nehmen sie an einem Projekt teil, das hochqualifizierte Flüchtlinge und Migranten unterstützt.

Saran Camara verhält sich in der Diskussion zurückhaltend, hört zu, beobachtet. Sie ist vor rund sechs Jahren alleine aus Guinea in die Schweiz geflüchtet, mittlerweile hat sie Asyl erhalten. Seither hatte sie verschiedene Jobs, nun will sich die 24-Jährige selbständig machen. Ihr Ziel: der Import afrikanischer Superfoods.

Starten will Camara mit Baobab – genauer gesagt mit einem Pulver, das aus der braunen, ovalen Frucht gewonnen wird. «In meiner Heimat schwören die Leute darauf, weil Baobab viel Energie gibt, aber in der Schweiz habe ich das Produkt noch nirgends gefunden», erklärt sie. Sie will das Superfood schnell bekannt machen, ohne ein zu hohes Anfangsinvestment machen zu müssen – indem sie es via Instagram vermarktet und online vertreibt.

Flüchtlinge kommen mit Investoren in Kontakt

Auf Anhieb wirkt Camara schüchtern. Doch wenn sie ihre Geschäftsidee präsentiert, klingt sie plötzlich bestimmt und selbstbewusst. In ihrer Heimat hat die Guineerin einen Abschluss gemacht, den sie mit einer Matur vergleicht. Auf die Hintergründe ihrer Flucht in die Schweiz möchte sie nicht näher eingehen, sie will lieber nach vorn schauen.

Camara und die anderen Frauen und Männer, die den lauen Frühlingsabend in einem kargen Büroraum verbringen, nehmen an einem Projekt der Organisation Singa teil. Es soll sie dabei unterstützen, ihr eigenes Startup zu gründen und sich selbständig zu machen. Die Workshops finden meist abends statt, denn die meisten Teilnehmenden arbeiten tagsüber. Rund die Hälfte von ihnen sind Flüchtlinge, die anderen Migranten, die aus Ländern ausserhalb der EU stammen.

Da ist die iranisch-belgische Doppelbürgerin Yasmine Sadri, die selbst ein Projekt für Flüchtlinge starten will, oder der Syrer Ali Alshweiki, der eine IT-Firma gründen will. Andere planen, sich mit 3D-Visualisierungen selbständig zu machen oder ein Restaurant zu eröffnen. Sie alle lernen, wie ein Business-Plan verfasst wird oder wie man eine Marktanalyse durchführt. Und sie kommen mit möglichen Investoren in Kontakt.

Projekte in Paris, Berlin oder Mailand

Camara, Alshweiki und Sadri diskutieren mit der Workshop-Leiterin und fordern sich gegenseitig heraus: «Warum vertreibst du die Produkte nicht online?», «Wie willst du die Kunden überzeugen?», oder: «Was unterscheidet dich von der Konkurrenz?», fragen sie in Französisch oder Englisch. Die Teilnehmenden sollen sich gegenseitig unterstützen, sagt der Büroleiter von Singa in Genf, Giordano Neuenschwander. «Alle haben unterschiedliche Expertisen, und das ist ideal.»

Neuenschwander führt das Projekt zum ersten Mal durch, kann aber auf die Erfahrung seiner Kolleginnen und Kollegen zurückgreifen, die die Singa Factory in den letzten Jahren in Paris, Berlin oder Mailand lanciert haben. In der Schweiz wurde Singa 2016 gegründet. Gestartet hat die Organisation in Zürich, nun ist Genf an der Reihe – wo die Erwerbsquote unter Flüchtlingen so tief ist wie in keinem anderen Schweizer Kanton. Und wo es nur so wimmelt von hochqualifizierten Migranten, die um Posten in internationalen Organisationen und Grossunternehmen buhlen. Kein einfaches Parkett.

Das musste auch Neuenschwander feststellen. Trotzdem findet er, das Projekt sei in Genf am richtigen Ort. «Die lokale Startup-Szene ist stark, das eröffnet uns viele Kooperationsmöglichkeiten. Gleichzeitig können wir mit der gezielten Unterstützung für Migranten eine Lücke schliessen.» Auch die Stadt Genf scheint hier Bedarf zu sehen, sie unterstützt das Projekt finanziell. Der Löwenanteil des Projekts wird jedoch vom Förderfonds «Engagement» der Migros-Gruppe finanziert.

Der Büroleiter von Singa in Genf, Giordano Neuenschwander, diskutiert mit Saran Camara ihre Ideen für die Unternehmensgründung. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Der Büroleiter von Singa in Genf, Giordano Neuenschwander, diskutiert mit Saran Camara ihre Ideen für die Unternehmensgründung. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Kaum Angebote für Hochqualifizierte

Der Workshop ist anspruchsvoll. Ständig fallen Begriffe wie «unique selling point» oder «minimum viable product». Die Teilnehmenden müssen ihre Geschäftsidee im Plenum vorstellen. Camara geht als Letzte nach vorne, schreibt ein paar Stichwörter aufs Whiteboard und versucht dann, in wenigen Worten zu erklären, was sie immer und immer wieder durchgedacht hat. Wie sie das Business langsam aufbauen und dabei lokale Kooperativen in den Anbauländern unterstützen will.

In der Schweiz gibt es nur wenige Projekte, die sich an hochqualifizierte Flüchtlinge richten. Die Kantone versuchen in der Regel, Personen, die Asyl erhalten, möglichst schnell in den lokalen Arbeitsmarkt zu integrieren. Dadurch werden auch Flüchtlinge mit höherer Bildung oft in niedrigqualifizierte Berufe vermittelt. So werden sie schneller finanziell unabhängig – was angesichts einer Sozialhilfequote von rund 85 Prozent unter anerkannten Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen eine klare Priorität von Bund und Kantonen ist.

Schnell in die finanzielle Unabhängigkeit

«Das Potenzial von Menschen mit Migrationshintergrund wird oft nicht genutzt», findet Elody de Brito, die zusammen mit Neuenschwander die Singa Factory in Genf leitet. So war es auch bei Camara, die verschiedene Berufe ausprobiert hat, um möglichst bald finanziell unabhängig zu werden.

Nachdem Camara 2013 in der Schweiz ankommt, besucht sie einen einjährigen Integrationskurs und besteht danach die Aufnahmeprüfung der Handelsschule. Dort läuft es aber schlecht, und das nicht nur schulisch: «Ich war die einzige Ausländerin und die einzige Schwarze in der Klasse und musste mir viele rassistische Kommentare anhören.» Die junge Frau entscheidet sich, während der Schulferien im Zentrum le Botza im Wallis, eine verkürzte Lehre als Schneiderin zu absolvieren. Darüber sagt sie schulterzuckend: «Ständig Bettlaken zu nähen, wurde mir aber schnell zu langweilig.»

«In der Handelsschule gehörte ich zu den wenigen, die den Namen des Bundespräsidenten nennen konnten.»

Sie findet einen Job als Kinderbetreuerin, träumt aber gleichzeitig von einem Studium in Internationalen Beziehungen. Denn politisch interessiert ist sie schon lange. «In der Handelsschule gehörte ich zu den wenigen, die den Namen des Bundespräsidenten nennen konnten», erzählt Camara und muss bei der Erinnerung daran lachen. Die Suche nach einem Studienplatz gestaltet sich schwierig. Viele Universitäten erkennen Camaras Schulabschluss nicht an. Schliesslich hat sie Glück: Eine private Universität in Genf bietet ihr einen Studienplatz und ein Teilstipendium an.

Für viele Flüchtlinge ist die Anerkennung von ausländischen Diplomen und Ausbildungen laut dem Bund ein Stolperstein bei der Jobsuche. Den Entscheid, ob ein Abschluss anerkannt wird, treffen die Hochschulen. Dass Flüchtlinge oft kein Diplom vorweisen können, erschwert die Situation zusätzlich. Doch die Hochschulen wollen ihre Abklärungsverfahren nun individuell überprüfen. Schon heute können Flüchtlinge bei der Rektorenkonferenz eine Diplomerläuterung beantragen, welche die Bildung ihres Herkunftslandes erklärt. Dies soll ihnen die Stellensuche erleichtern.

«Ich bin nicht naiv»

Noch ist das eigene Unternehmen für die meisten nur ein Traum. Und für einige wird es das auch bleiben, denn es gibt einen internen Wettbewerb. Nach der Startphase können nur rund zwei Drittel der Teilnehmenden weiterhin unterstützt werden. Sie erhalten einen Mentor, der sie eng begleitet.

In einer Woche müssen alle ihre Geschäftsidee präsentieren. Während die Workshopleiterin referiert, bereitet Camara auf ihrem Laptop erste Folien vor. Sie glaubt, dass sie ihrem Traum vom eigenen Unternehmen bereits einiges näher gekommen ist. «Aber ich bin nicht naiv», stellt sie klar, «ich weiss, dass noch einiges auf mich zukommt.» Die Import- und Hygienebestimmungen könnten ihr beispielsweise einen Strich durch die Rechnung machen. Möglich ist auch, dass den Schweizern ihr Produkt nicht schmeckt.

Saran Camara sieht es positiv. Wenn es mit dem eigenen Unternehmen nicht auf Anhieb klappen sollte, wisse sie nun immerhin viel Neues im Bereich Marketing und Produktlancierung, was ihr bei der Stellensuche helfen könne. Aber ihr Ziel will sie nicht aufgeben: «Ich will nicht ständig das Gefühl haben, dass beruflich mehr dringelegen hätte, ich es aber nicht versucht habe.»

Im Genfer Viertel Carouge finden ein bis zweimal pro Woche die Workshops der «Singa Factory» statt. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Im Genfer Viertel Carouge finden ein bis zweimal pro Woche die Workshops der «Singa Factory» statt. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

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