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Ostfriesische Inselwelt: Wege des Schlicks

Foto: imago

Sanddrift im Wattenmeer Neue Nordseeinsel trotzt allen Fluten

Die Ostfriesischen Inseln verlieren dramatisch an Land. Daten eines Hightech-Messturms im Wattenmeer zeigen, dass massenhaft Schlick in die offene Nordsee strömt. Die Sanddrift hat auch schöne Folgen: Aus dem Wasser erhebt sich eine neue Insel.

Deutschland bekommt Zuwachs, in Ostfriesland entsteht eine Insel. Eine alte Sandbank vor Juist wird nicht mehr von auflaufendem Wasser überspült. Bereits vor zehn Jahren hatten Medienberichte Neugierige an den neuen Sandfleck westlich von Juist gelockt, ihre lärmenden Flugzeuge und Schiffe vertrieben Tiere von dem Eiland.

Mittlerweile hat sich die Insel deutlich vergrößert. Sie trotzt nun selbst Sturmfluten, ihre Dünen sind inzwischen drei Meter hoch. Seehunde haben das Eiland erobert.

Kachelotplate heißt das inzwischen gut 150 Hektar große Eiland, es entspricht in etwa der Fläche von 200 Fußballfeldern. In wenigen Jahren dürfte es sich Prognosen zufolge mit der Vogelinsel Memmert vereinigen. Auch Memmert ist jung, sie stieg vor gerade mal rund 400 Jahren aus dem Meer. Nun fragen sich die Ostfriesen: Wo entsteht die nächste Insel?

Sorgen der Anwohner

Wissenschaftler rätseln noch. Sie treibt vor allem die Frage, wo die dynamische Nordsee Sand abträgt - die Ostfriesischen Inseln sind bedroht. Ihre Dörfer lagen einst zentral, nun stehen viele an den westlichen Inselkanten. Die vorherrschende West-Ost-Strömung der Nordsee reißt massenhaft Sand mit, der sich ostwärts ablagert - der Strand von Wangerooge lag einst auf Spiekeroog. An den Westküsten aber müssen Deiche ständig aufgeschüttet werden, an denen das gefräßige Meer genagt hat.

Seit gut zehn Jahren überwacht ein gelber Turm  zwischen Langeoog und Spiekeroog den Wettstreit Wasser gegen Land. Im Minutentakt sammelt der mit Sensoren vollgestopfte Wächter des Wattenmeers etwa hundert Messwerte über Partikel, Nährstoffe und Eigenschaften des Wassers.

Die Bilanz der Messungen erhöht die Sorge der Anwohner, das Wattenmeer könnte Sand verlieren. "Wir haben einen Export insbesondere von feinem Schlick in die offene Nordsee festgestellt", sagt Jürgen Rullkötter, leitender Wissenschaftler am Institut für Chemie und Biologie des Meeres an der Universität Oldenburg (ICBM).

Havarie des Weltumseglers

Jüngst wurde ein Weltumsegler aus Hamburg von den untermeerischen Sandverlagerungen überrascht. Nach einem Törn rund um den Globus lief er auf seiner letzten Etappe vor Spiekeroog auf Grund - dabei brach der Kiel seiner Yacht. Statt triumphal im Hamburger Hafen einzulaufen, musste er mit dem Auto in die Heimat zurückkehren.

"Ursache der Havarie war, dass sich der sandige Meeresgrund hier so rasch verändert", sagt der Ozeanograf Thomas Badewien vom ICBM. Seekarten sind oft schon veraltet, kaum dass sie gedruckt wurden. Aus Seefahrtsrinnen können Monate später gefährliche Untiefen geworden sein. "Sichtbar wird ja nur, wie viel Sand Sturmfluten von den Inseln räumen", sagt Badewien. Unter Wasser jedoch richteten starke Strömungen mitunter in wenigen Tagen ähnliche Schäden an, haben die Forscher festgestellt .

Entscheidung im Tor zur Nordsee

Die Daten des Messturms belegen rasante Umwälzungen. Er steht im "Tor zur Nordsee" zwischen Langeoog und Spiekeroog, einer Passage, durch die mit den Gezeiten fast alles Wasser strömt, das sich bei Flut im Rückseitenwatt hinter beiden Inseln befindet. Fast alle Sandkörner, die mit den Gezeiten zwischen Watt und Nordsee transportiert werden, müssen die Enge passieren.

Bei Hochwasser ragt der Wachturm sieben Meter aus der wogenden Nordsee. Sein Kopf ist ein klobiger gelber Container, der eine Forschungsstation fasst. Mittels Solarzellen und Windrad versorgt der Turm sich selbst mit Energie. Für Stromengpässe stehen 24 Batterien bereit, jeweils einen Meter hoch und 82 Kilogramm schwer.

Auf einer schmalen Metallleiter steigen Wissenschaftler und Ingenieure im Innern des Turms bis auf den Meeresgrund hinab. Dort schneiden fünf Rohre den 1,60 Meter dicken Messturm - durch sie strömt Meerwasser. Live-Daten aus der Strömung werden vom Turm in die Labore der Forscher an Land und teilweise ins Internet übertragen . Anhand der Daten prüfen die Forscher, wie viele Sandpartikel unterwegs sind.

Deichbau treibt die Strömung

Die Messungen zeigen: Die Sand- und Schlickebene der Nordseeküste scheint nicht unerschöpflich. Zwar spülen Flüsse Sand ins Meer. Und im Rhythmus der Gezeiten schwemmt die Flut zweimal täglich Sedimente in Richtung Küste, die sich während des kurzen Stillstands der Strömung beim Übergang zur Ebbe am Boden ablagern.

Das anschließend ablaufende Wasser scheucht nicht alle Sandkörner wieder auf. Daher erhöht sich das Watt so lange, bis es über dem Meeresspiegel liegt und Marschland entsteht - oder bis eine Sturmflut den Sand zurück ins Meer holt. Doch Küstenbewohner sorgen sich seit langem, das System könnte aus dem Gleichgewicht geraten sein.

Seit der Mensch Deiche baut, schwappt das Meerwasser gegen Befestigungen, anstatt wie früher auszulaufen. So bleibt es in Bewegung - und darin auch die Sandkörnchen. Nur gröbere Partikel können sich noch aus der Strömung absetzen. Zugleich räumen vor allem Sturmfluten vor den Deichen den Sand erbarmungslos ab.

Rätsel der Strudel

"Wir wissen noch nicht genau, wie die Bilanz letztlich aussehen wird", sagt Badwien. Zu viele Einflüsse wirken sich aus: Gezeiten, Stürme, Strömungen, Landveränderungen. Die Schwankungen des Sandtransportes seien zu hoch, um bereits entscheiden zu können, wer gewinnen wird: Meer oder Watt.

Mit Hilfe von Schallwellen, die von der Plattform des Turms ausgesendet werden, messen die Forscher den Sandgehalt des Meerwassers auch von oben. Treibende Sandkörner reflektieren die Schallwellen Richtung Messpfahl, wo Sensoren sowohl die Größe als auch die Menge der Sediment-Teilchen bestimmen.

Womöglich liege das Geheimnis in den vielen Strudeln, die im Wattenmeer kreiseln, meint Badewien. Dunkle Färbung verrate, dass sie erhebliche Mengen Schlick aufwirbelten. Wie viel Sand schaffen sie weg? Die schaumberänderten Strudel sind flüchtig. Auch der Wächter-Pfahl im Watt kann sie nicht ergründen.