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„Literatur muss Scham erzeugen“

Der Samuel-Fischer-Gastprofessor Édouard Louis wandte sich in seiner Antrittsvorlesung gegen eine Literatur, die Armut, Ausbeutung und Unterdrückung die Repräsentation verweigert

17.07.2018

Die Herkunft aus einer niedrigen sozialen Schicht und Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung seien im Diskurs der bürgerlichen Öffentlichkeit so gut wie nicht vertreten, sagte Édouard Louis bei seiner Antrittsvorlesung.

Die Herkunft aus einer niedrigen sozialen Schicht und Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung seien im Diskurs der bürgerlichen Öffentlichkeit so gut wie nicht vertreten, sagte Édouard Louis bei seiner Antrittsvorlesung.
Bildquelle: Nina Diezemann

Der französische Autor Édouard Louis unterrichtet in diesem Semester als Samuel-Fischer-Gastprofessor am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität. Der 26-Jährige gehört zu den wenigen Schriftstellern, deren Erstlingswerk unmittelbar zu einer literarischen Sensation wurde. Sein stark autobiografisch geprägtes Debüt En finir avec Eddy Bellegueule („Das Ende von Eddy“), das auch für den renommierten Prix Goncourt du premier roman nominiert war, spielt im Arbeitermilieu, dem Louis selbst entstammt und das in seinem Werk eine wichtige Stellung einnimmt.

Bei seiner Anfang Juli auf Englisch gehaltenen Antrittsvorlesung mit dem Titel „What literature can do? On shame, arts, and politics“ („Was Literatur bewirken kann? Über Scham, Kunst und Politik“) war jeder Platz im über 300 Personen fassenden Hörsaal besetzt. Édouard Louis sprach vom schwulen Guineer Moussa Camara, der in seiner Heimat erleben musste, wie sein Freund bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Moussa flüchtete nach Frankreich, wo er mit seinem Asylgesuch in Abschiebehaft landete. Louis sprach auch von der zweifachen Mutter Émilie Loridan, die aus Verzweiflung über gestrichene Sozialleistungen Selbstmord beging. Und er sprach von seinem Vater, den schwere Fabrikarbeit zu einem chronischen Schmerzpatienten gemacht hatte und der trotz seines Rückenleidens von einem Gesetz namens „Sozialreform“ zur Straßenreinigung in gebückter Haltung gezwungen wurde. Der Körper eines geschundenen Arbeiters stellt, so Louis, die Realität der Klassengesellschaft vor Augen.

Verschweigen und Auslöschen der Schwachen

Die Biografie seiner Mutter nahm Édouard Louis als Indiz dafür, dass ein niedriger Rang in der gesellschaftlichen Schichtung Anlass für Scham und Schweigen ist. Sie schäme sich für ihre fehlende Bildung, für ihre Abstammung, für ihre Demütigung durch zwei gewalttätige Ehemänner. „Würde meine Mutter hier und heute an meiner Stelle stehen – ihre proletarische Herkunft wäre ihr derart unangenehm, dass sie kein Wort herausbrächte.“ Leute wie sie könnten weder für sich sprechen, noch hätten sie Fürsprecher in der Öffentlichkeit, die sie in Schutz nehmen.

Die Frage nach Unterdrückung und der Gewalt sozialer Ungleichheit führte Édouard Louis zu der Frage, wie über die Literatur nachzudenken sei. Worüber sollen wir schreiben? Was wollen wir mit unserem Schreiben bewirken? Wer gibt den Abgehängten und Diskriminierten eine Stimme? Und warum sprechen so viele Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht von denen, die in der Öffentlichkeit nicht mehr als politische Subjekte, als Träger von Rechten wahrgenommen werden? Mit diesen Fragen verbindet sich für Louis der Verdacht, dass großen Teilen der Literatur womöglich eine eskapistische Funktion zukommt. Ist die Literatur eine Ausweicherzählung, die es ermöglicht, Armut, Diskriminierung und andere Quellen ständiger Beschämung nicht zum Thema machen zu müssen?

Édouard Louis sprach von der ethischen Verpflichtung, echte Menschen und echtes Leid zu portraitieren, keine „künstlich konstruierten“ Figuren und erfundenes Leid.

Édouard Louis sprach von der ethischen Verpflichtung, echte Menschen und echtes Leid zu portraitieren, keine „künstlich konstruierten“ Figuren und erfundenes Leid.
Bildquelle: Nina Diezemann

Die Ausklammerung des Sozialen illustrierte Louis mit der Geschichte eines reichen Ehepaars in einer Pariser Galerie, das in den Gemälden des 19. Jahrhunderts nur den eleganten Lebensstil sieht. Während es das Sterben der Bergleute in den Gruben (wie es Émile Zola in Germinal beschrieben hat) ignoriert oder schlimmer, dem Gespött preisgibt. „Die Leute wenden sich ab, wenn sie unangenehmen Wahrheiten begegnen. Sie schauen weg vom Skandal eines obdachlosen Mannes, der draußen auf der Straße im Regen schlafen muss. Sie wollen die Gewalt nicht sehen.“ Aus dieser bitteren Einsicht leitet Louis die Forderung ab, dass Literatur anschreiben müsse gegen die ihr selbst inhärenten Mechanismen des Verschweigens und Auslöschens von Menschen ohne Privilegien.

Die politische Bedeutung der Scham

Louis zitierte die französische Schriftstellerin Marguerite Duras, die in ihrem Tagebuch La Douleur („Der Schmerz“) das zermürbende Warten auf die Rückkehr ihres nach Buchenwald deportierten Ehemanns schilderte. Im Gegensatz zu den Tagebüchern sei ihr erfundene Prosaliteratur wie etwas vorgekommen, für das man sich schämen müsse. Louis gefällt diese Beobachtung: Solange im Mittelmeer massenhaft Menschen ertrinken, solange Schwule und Lesben verfolgt oder Tiere industriell gequält würden, müsse Literatur Scham erzeugen. Literatur müsse sich für sich selbst schämen.

Das Genre der Autobiografie erlaube es, die Leserinnen und Leser mit gesellschaftlicher Ungerechtigkeit zu konfrontieren. Dabei geht es Louis nicht bloß um die psychologische Entwicklung in einer individuellen Familiengeschichte, sondern um den mitgefühlanregenden Appell an andere, sich von der Scham seiner Eltern, von seiner erlittenen Vergewaltigung überwältigen zu lassen und sie einer politischen Debatte zuzuführen. In der Scham anderer, die uns berührt, kommt unsere eigene Beschäm- und Verletzbarkeit zum Ausdruck, und zwar über alle Unterschiede hinweg, die uns auf den ersten Blick von unserem Gegenüber trennen mögen. „Scham ist das Werkzeug, um eine andere Welt zu erschaffen. Scham ist die unsichtbare Grundlage der Literatur. Ich verwende Literatur, um Scham in der Welt zu verbreiten.“

Weitere Informationen

Édouard Louis’ derzeit stattfindendes Seminar mit dem Titel „History of literature, history of violence“ (Geschichte der Literatur, Geschichte der Gewalt) wird den in der Antrittsvorlesung aufgeworfenen Fragen weiter nachgehen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lesen Texte von Marguerite Duras, Toni Morrison und Michel Foucault. Das Seminar findet dienstags von 14 bis 16 Uhr in englischer Sprache statt.