Dies ist der erste Text unserer neuen Serie Heimatreporter. Redakteure von ZEIT und ZEIT ONLINE besuchen das ganze Jahr über jene Orte, an denen sie aufgewachsen sind, die sie gut kennen und für die sie eine besondere Empathie haben. Die Serie ist Teil unseres neuen Ressorts #D17,  in dem wir Deutschland neu erklären wollen.

Weitere Informationen über das Projekt #D17.


Lehe, das sind 16 Quadratkilometer in Bremerhaven. Lehe, das sind die Postleitzahlen 27568, 27576, 27578, 27580. Lehe, das ist der größte Bezirk der Stadt. Trotzdem gibt es viele, für die besteht Lehe nur aus ungefähr zwanzig schmalen Straßen.

Dann schrumpft der Stadtteil plötzlich auf das Goethequartier, ein Dreieck, in der Mitte des Bezirks. Im Norden der Containerhafen, im Süden grenzt es an das Zentrum, dort, wo die jüngsten Attraktionen stehen, das Klimahaus, das Auswanderhaus, das Hotel, das aussieht wie ein aufgeblähtes Segel, der Wind, der Deich, dahinter dann die Welt.

Lehe, das schrieb die Bild-Zeitung, sei der "ärmste Stadtteil Deutschlands", und wer das so sehen will, der sieht es. Fernsehteams filmten einstmals stolze Altbauten mit teils abenteuerlich gestrichenen Fassaden, junge Mütter, Kinderarmut, Gerümpel in Tüten, Spielstraßen, in denen keiner spielt. In Deutschland hat man Lehe zu einem Ausmalbild gemacht, in den Farben asphaltgrau und blaulicht. Auf Google Maps schien die Anordnung der Straßen auszusehen wie der Umriss eines Warnschilds. Altes, armes Lehe.

Hätte es die Geschichte mit Bremerhaven besser gemeint, vielleicht wäre Lehe jetzt wie Eimsbüttel in Hamburg, wie Kreuzberg in Berlin. In diesem Leben aber stehen viele Wohnungen leer, ihre Fenster sind vor Staub erblindet, manche Türen zugenagelt. Regelmäßig reisen Journalisten und Kamerateams aus dem ganzen Land an, wenn sie zeigen wollen, was schiefläuft, wenn sie mal wieder beweisen wollen, dass es in Deutschland auch so zugeht wie in der Bronx oder in der Serie The Wire.

Manche Bremerhavener sagen, für Lehe gibt es wenig Hoffnung. Und es gibt Moritz Schmeckies, der sagt: Na, dann komm mal rein.

Er springt von einem blauen Container in der Goethestraße herunter, der Hauptstraße des Viertels. Bei Mittwochssonne strahlt hier alles, die schmiedeeisernen Zäune, die stuckverzierten Häuser, manche schräg in den Boden gesackt. Marschland überall. "Ja, hier ist Schiefhausen" sagt Schmeckies und wie er es sagt, hört es sich an, als lehnten die Häuser sich nur kurz entspannt zurück. Moritz Schmeckies ist 35 Jahre alt. Er trägt eine runde Brille, einen Troyer und tippt grüßend an seine Mütze. Auf ihr steht in weißen Großbuchstaben: BREMERHAVEN. Alles an ihm sagt: Hier komm ich her.

Etwas wetterfester als anderswo

Nicht weit vom Goethequartier wuchs er auf. Nach dem Abitur ging er fort, wie so viele hier, die irgendwann am Deich stehen und merken, wie groß das Meer ist, wie weit eigentlich die Welt ist und wie eng sich dagegen so eine Stadt wie Bremerhaven anfühlen kann, für all das Zeug, das man im Kopf hat. In Göttingen hat Schmeckies Ethnologie studiert, schrieb seine Abschlussarbeit über Kannibalismus, in Leipzig arbeitete er im Museum, saß im Archiv zwischen Exponaten, las Aufsätze über entlegene Völker in der Südsee. Schmeckies ist nicht zurückgekommen, weil er musste. Er kam, weil er es wollte.

An der Goethestraße entsteht das Projekt, an dem Moritz Schmeckies seit Jahren arbeitet: Goethe 45, fünf Stockwerke, zehn Wohnungen mit Platz für Maler, Schriftsteller und Musiker. Vor drei Jahren hatte seine Mutter in diesem Haus eine Galerie für den Stadtteil eröffnet. "Es kamen nicht nur die, die sowieso immer kommen", sagt Moritz. "Es waren auch Leute da, die sonst eher vor dem Supermarkt rumstehen. Auch fertige Typen." Schmeckies dachte: Und wenn man das ganze Haus zum Künstlerhaus umbaute? Das Haus stand leer. Die Wohnungen gehörten Leuten aus München, aus Holland. Ungeklärte Besitzverhältnisse, die sich nur mühsam lichteten. Schließlich hatte die Stadt alle Wohnungen zurückgekauft. So fing es an.

Einer, der zurückgekommen ist: Moritz Schmeckies koordiniert das Künstlerhaus-Projekt "Goethe 45". © Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Das verhüllte Baugerüst versperrt noch die Sicht auf die Fassade. Die Wohnungen, größtenteils noch Rohbau, sind fast alle schon vergeben. Halbtags unterrichtet Moritz Schmeckies Religion und Philosophie an einer Gesamtschule im Stadtteil, den Rest des Tages verbringt er meistens "an der Goethe".

Nebenan gibt es bereits ein Wohnprojekt: pensionierte Lehrer, wohlhabende Rentner leben darin, denen ihr Haus im Grünen zu groß wurde und die Innenstadt zu weit weg. Die Städtische Wohnungsbaugesellschaft hat es nach den Wünschen der Mieter saniert. Sie finanziert auch den Umbau der Goethe 45, dazu floss Geld von der EU. Ein Mobile aus Regenschirmen wippt über dem Hauseingang. "Ein paar Millionen hat das wohl alles gekostet", sagt Schmeckies.

Moritz Schmeckies ist kein Sozialromantiker. Manchmal sehe er hier Dinge, die ihn traurig machten, sagt er. Gewalt, Drogen, Langzeitarbeitslose, oft in zweiter Generation, das seien oft wirklich arme Leute, an denen die Welt vorbeigezogen sei. Deshalb sei es wichtig, dass Lehe sich verändere. Dass die Eingesessenen sehen, dass etwas passiert. Wenn jemand von außen hier etwas verändern wolle, werden die Leute schnell misstrauisch.

Bremerhaven

Er spricht mit dem Dialekt, der in Bremerhaven ein bisschen wetterfester klingt als in Bremen oder Hamburg. Ein "Joa" muss hier nicht nur vage Zustimmung bedeuten, es kann auch ein existenzialistischer Exkurs mit drei Buchstaben sein. Für viele war Moritz Schmeckies zu Beginn nur eine Stimme am Telefon. Dann kannten ihn bald alle im Viertel. Den Mann mit dem blonden Scheitel, der gerade und federnd durch die Straßen läuft. Den Mann mit dem enthusiastischen Händedruck, der plötzlich in der Leher Stadtteilkonferenz auftauchte, wo auch über das Quartier beraten wird. Einer, der jeden grüßt. Schmeckies sagt: Irgendwer muss ja hier den Anfang machen.

Möglicherweise hat Lehe solche Idealisten länger schon gebraucht, und es werden langsam mehr. Wo andere Statistiken sehen, die höchste Kinderarmut des Landes, die Überschuldungsquote von 37 Prozent, da sieht Schmeckies die Möglichkeiten, die Freiräume. Wo andere bloß Ein-Euro-Shops und staubige Auslagen sehen, Gestalten, die manchmal zu dicht an einem vorbeilaufen, da sieht er die Geschichten. Über uralte Obstbäume in Hinterhöfen, geheime Gartenpartys, das verlassene, glamouröse Kino. Anekdoten über die harten Jungs von Früher, drüben aus der Lessingstraße, wo die Prostituierten im Schaufenster auf Kunden warten, eine Kleenex-Schachtel zu ihren Füßen. Harte Jungs gehen, harte Jungs kommen. So wie in Bremerhaven immer alles gegangen, gekommen, gegangen, gekommen ist, die Schiffe, die Nordsee, die Arbeit, die Menschen.