Der alten Welt ist nicht bewusst, wie neu die neue Welt ist.
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Der alten Welt ist nicht bewusst, wie neu die neue Welt ist.

Vorab: Mir ist klar, dass der Titel dieses Beitrags einseitig und provokativ ist. Diese kleine Provokation kann ich hoffentlich in den folgenden Zeilen hin zu einem konstruktiven Anstoß auflösen.

Perspektive und Zugang

Mein beruflicher Alltag dreht sich seit vielen Jahren fast ausschließlich um Transformation und Veränderung. Wie können wir uns weiter entwickeln? Wie müssen wir uns strategisch aufstellen? Wie können wir unsere Zusammenarbeit verbessern? Wie kommt das Neue in die Welt?

Ich liebe meinen Beruf. Er birgt jeden Tag neue Überraschungen, Erfahrungen und Erkenntnisse.

In unzähligen Situation durfte ich beobachten und miterleben, wie Menschen auf Neues reagieren. Vielfach war ich irritiert, manchmal auch genervt. Glücklicherweise habe ich vor vielen Jahren mein Interesse für Philosophie, Dialektik, systemische Organisationsentwicklung und Systemtheorie entdeckt. Hier habe ich gelernt, länger zu beobachten und spontane Bewertungen bewusst zu vermeiden. Dieser Zugang macht einen Unterschied, der einen Unterschied macht. Einen Unterschied im Denken, im Erleben und im Lernen.

Digitale Transformation und Wandel

Die neuen technologischen Möglichkeiten - insbesondere die digitale Vernetzung - haben uns in ein neues menschliches Zeitalter katapultiert: Das vernetzte Zeitalter. Das gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische, politische und ökologische Umfeld von Unternehmen verändert sich mit einer weitaus höheren Geschwindigkeit, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war.

Dabei ist mir wichtig zu betonen: Insgesamt ist es den Menschen noch nie so gut gegangen wie heute (vgl. z.B. https://ourworldindata.org). Gleichzeitig geht die viel zitierte "Schere" in vielen Bereichen immer weiter auf. Wir haben große Probleme, für die wir Lösungen finden müssen.

Die alte und die neue Welt. Eine Frage des Denkens.

Ich verwende dieses Bild bewusst, um einen Unterschied zu verdeutlichen. Vereinfacht gesagt: In welcher Welt sind unsere Eltern aufgewachsen und wie wachsen unsere Kinder auf? Mein Eindruck ist: Der Unterschied ist größer als in den Generationen zuvor.

Der alten Welt ist nicht bewusst, wie neu die neue Welt ist.

Das alte Denken.

Wenn wir uns entwickeln wollen, müssen wir unser Denken weiter entwickeln. Um dies zu schaffen, müssen wir unser Denken kritisch hinterfragen und mit einem offenen Geist auf das Neue zugehen. Dabei dürfen wir natürlich nicht das vergessen, was zeitlos wichtig ist. Prinzipien, Tugenden und Weisheiten, die zeitunabhängig gültig sind.

Einige Hypothesen zu unserer westlichen Denkkultur:

  • Rationales Denken: Wir kommen aus einer Zeit, in der es gut ist, Antworten zu geben. Professionalität und Kompetenz drücken sich durch richtige Antworten aus. Wir versuchen, uns die Welt logisch und rational zu erklären. Nach dieser Prämisse bauen wir die Teilsysteme unserer Gesellschaft (Bildung, Gesundheit, Recht, Politik...).
  • Lineares Denken: Die Welt hat sich in den letzten Jahrhunderten verhältnismäßig linear entwickelt. Das, was wir bis zu einem gewissen Zeitpunkt erlebt hatten, ließ sich relativ linear fortschreiben. Nach diesem Denkmuster gehen wir auch Innovations- und Strategiefragen an.
  • Leistungsorientiertes Denken: Wenn wir uns anstrengen, können wir ein gutes Leben führen. Leistung lohnt sich. Leistung ist gut und wichtig.
  • Trennendes Denken: Mit zunehmender Beschleunigung und damit einher gehender Verunsicherung sind viele Menschen auf der Suche nach einfachen Wahrheiten. Dies führt zu einer zunehmende Polarisierung der Gesellschaft. In der Breite gelingt es kaum, Widersprüche und Vielfalt in etwas Neues, Gutes zu transformieren. Diskurs ist häufig trennend und destruktiv.

Das neue Denken.

Es liegt mir Fern, Neues per se und undifferenziert für gut zu befinden. Um das Denkexperiment aber zum Ende zu führen, möchte ich die neutralen oder positiven Aspekte des neuen Denkens und damit des neunen Zeitalters hervor heben.

  • Neugieriges und offenes Denken: Wir lernen - Tag für Tag, Minute für Minute. Neues nehmen wir neugierig auf und versuchen, etwas Spannendes und Nützliches daraus zu entwickeln. Wir hinterfragen unser Wissen und unsere Modelle tagtäglich - mit dem Ziel, es weiter zu entwickeln.
  • Faktenbasiertes Denken: Wir sind in immer mehr Bereichen in der Lage, Hypothesen sofort empirisch zu überprüfen. Funktioniert das? Nimmt der Markt die Idee an? Stößt die Idee auf Resonanz? Nämlich indem wir Daten erfassen und analysieren. Die zunehmende Vermessung der Welt. Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts.
  • Nachhaltiges und langfristiges Denken: Wir sind erstmalig in der Lage, eine "globale Ethik" zu entwickeln (siehe z.B. TED Talk von Gordon Brown). Nämlich indem wir weltweit die großen Probleme erkennen, anerkennen und gemeinsam bekämpfen. Menschen brauchen Krisen und Probleme, um echten Fortschritt zu erzielen. Die Probleme sind erkannt - und vor allem sind sie groß und erheblich genug (Klima, Armut, soziale Ungleichheit ...).
  • Kollaboratives und verbindendes Denken: Wir gehen große und komplexe Probleme im Team an. Dabei integrieren wir vielfältige Zugänge, Erfahrungen und Kompetenzen. Wir schätzen langjährige Erfahrung und althergebrachte Prinzipien - denn sie sind zwingend notwendig, um den Blick für das Wesentliche nicht zu verlieren.

Kritik an der alten Welt.

Es wird Ihnen aufgefallen sein: Ich habe ein eigentlich unzulässiges Denkexperiment gemacht. Ich habe das potenziell Negative des Alten und das potenziell Positive des Neuen gegenüber gestellt.

Im Sinne der Dialektik könnte eine Richtigstellung wie folgt aussehen (in Anlehnung an Pietschmanns HX-Verwirrung):

Wenn wir die alte Welt kritisieren, so dürfen wir dies natürlich nur tun, wenn wir dies gleichzeitig auch mit der neuen Welt tun. Konkreter: Wenn wir den Schatten bzw. das Destruktive am Alten und am Neuen kritisieren.

Konstruktiv im Sinne des Fortschritts kann es aber nur werden, wenn wir das Alte und das Neue als potenziell wichtig und wertvoll anerkennen und versuchen, die gemeinsame übergeordnete Position zu finden, an der wir uns orientieren können. Im Sinne von These - Antithese - Synthese. Ohne diesen übergeordneten Sinn und Zweck laufen wir immer wieder Gefahr, in das Trennende und Destruktive zu verfallen.

Warum habe ich trotzdem nur die alte Welt kritisiert? Aus einem einzigen Grund: Ich orte in der neuen Welt mehr Offenheit und Neugierde, die jeweils andere Seite kennen zu lernen. Das Neue wäre vielfach froh und dankbar, von der alten Welt Orientierung, Hilfestellung und wertvolle Prinzipien zu erhalten oder zu lernen. Das Alte hingegen nehme ich häufig so wahr, dass es sich dem Neuen frühzeitig verschließt, es lächerlich macht oder abkanzelt.

Warum ist der alten Welt nicht bewusst, wie neu das Neue ist? Weil das Neue heute viel neuer ist, als dies früher der Fall war und weil sich das Alte zu wenig mit dem (guten) Neuen auseinander gesetzt hat.

Fazit: Keine Zukunft ohne Herkunft.

Wir können uns nur weiter entwickeln, wenn es gelingt, Vielfalt und Polaritäten konstruktiv zu nutzen. Es kann nur gemeinsam gelingen. Keine Zukunft ohne Herkunft.

Ich bin in Summe sehr optimistisch, wenn wir...

  • ...uns gegenseitig die Hand reichen, uns gut zuhören, unsere Argumente kritisch hinterfragen und bereit sind, von- und miteinander zu lernen.
  • ...das Neue als "radikal neu" akzeptieren. Nämlich die neuen technologischen Möglichkeiten, die die Welt in ein neues Zeitalter katapultiert haben.
  • ...co-kreative Räume schaffen, in denen wir das Alte und das Neue in einer heiteren Gelassenheit miteinander spielen lassen.
  • ...persönliche Gelassenheit und Souveränität entwickeln, indem wir uns mit anderen Gedanken und Lebenswelten auseinander setzen. Denn der junge, zukunftsorientierte Mensch kann nur reifen, wenn er sich mit alten Weisheiten und Prinzipien auseinander setzt. Und der alte, werteorientierte Mensch kann nur weiter lernen, wenn er sich dem Neuen öffnet. Neugierig und gelassen.
  • ...das richtige Maß finden. Denn weder das Alte noch das Neue ist per se gut. Es ist wie so häufig im Leben. "Es kommt drauf an..."

Stefan Hagen

Rene Allgaeuer-Gstoehl

R&D Teamleader Mechanics and Optics bei Leica Geosystems part of Hexagon

6y

Wo endet die Alte Welt, wo beginnt die Neue? Wenn man die Welt rein technologisch betrachtet, hat es diese Umbrüche immer schon gegeben. Folgend den Beobachtungen von Kondratieff und den industriellen Schüben der Dampfmaschine, der Elektrifizierung usw... Jede Änderung im Leben eines Menschen, wird vom grössten Teil der Menschheit zuerst einmal negiert. Der Mensch fühlt sich wohl im Status Quo, solange seine Bedürfnisspyramide ein befriedigendes Leben zulässt. Bei meiner Be-schäftigung mit der disruptiven Innovation ist mir in Erinnerung geblieben, die Angst der Menschen vor dem Automobil. Die Propaganda, dass der aufgewirbelte Staub der Fahrzeug uns alle Krank ma-chen wird. Heute eine unvorstellbare Angst. Die gleichen Barrieren wird es mit jedem neuen technologischen Wandel geben, auch mit der Digitalisierung. In der alten Welt wird nicht allen bewusst sein, wie die neu Welt aussieht. Wir sind nicht alle Pauschal Early Adopters und offene neugierige Geiste. Die Pioniere werden uns die neue Welt zeigen und die Late Majority wird früher oder später folgen. Weiss nicht, ob die Menschen heute schneller dazu fähig sind als früher. Wir sind doch schon mit dem Email Postfach überfordert.

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hmmm ... weiss nicht so genau, wie ich das alles einordnen soll. Ich beschäftige mich schon lange mit Agilität, Lean, ... nur weiss ich nicht, ob die zweifellos guten Ideen, die dahinter stecken auch wirklich funktionieren - Flächendeckend und auf Dauer mein ich. Es ist klar, technologisch gesehen dreht sich die Erde schneller, als sie das je getan hat. Es gab noch nie so viele Personen, die Zugang zu (akademischer) Bildung hatten und dementsprechend auch in Millionen verschiedener Kontexte Innovation betreiben können und dies auch tun. Nur sind wir Menschen wirklich in der Lage dieses enorme Tempo zu gehen? Auf Dauer? Ich hab da meine Zweifel. Der Wunsch nach einfachen Antworten, nach starken Führern - so wie wir ihn im Moment weltweit sehen - ist für mich ein Zeichen dafür, dass das Gros der Menschheit mit dieser gesteigerten Eigenverantwortung nichts anfangen kann und will. So wie wir das auf globaler politischer Ebene sehen, habe ich das schon oft genug im kleinen Projekt erlebt. Ich will damit nicht sagen, dass die Menschheit für Eigenverantwortung, radikal Neues, ... nicht empfänglich ist. Ich glaube nur, dass ein Großteil der Menschen dafür mehr Zeit braucht. Für mich geht die Schere da auseinander - einige, die mit der enormen Kadenz des Fortschritts mithalten können, und viele, die zurückfallen, weil sie zu langsam sind. Was dann oft passiert, ist das Gegenteil dessen, was du hier als neues Denken beschreibst. Egoismus anstatt Kollaboration, kurzfristige Optimierungen anstatt langfristiges Denken, Spezifikationen statt Experimente. Ich find dein Fazit super. Keine Zukunft ohne Herkunft. Keine Geschwindigkeit ohne Langsamkeit. Kein Neues ohne Altes. Leider haben das gerade viele sogenannte Agile Coaches meines Erachtens nicht oder nur ansatzweise verstanden.

Sandra Hollenstein

One day or day one - you decide.

6y

Anregender Beitrag! Mir ist spontan der Spruch des Bregenzerwälder Mundartdichters Gebhard Wölfle (1848 - 1904) in den Sinn gekommen: „Meor ehrod das Ault, und grüssed das Nü, und blibot üs sealb und dr Hoamat trü.“

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Alexander Schaaf

Agil lernen | Digital arbeiten | Neues entwickeln

6y

Toller Artikel - wenngleich mir der Überaschungsmoment fehlt. Evtl ist es auch so selbstverständlich das es vielen nicht bewusst ist, das man sich auf Neues nur einlassen kann wenn man alte Denkmuster bereit ist in Frage zu stellen OHNE gleichzeitig alles Neue kritiklos zu akzeptieren. Hier ist auch das Werte- und Entwicklungsquadrat von Hartmann Bzw Schulz von Thun ein hilfreiches Instrument. Super Beitrag - Danke!

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Kristin Scheerhorn

Ich begleite Führungskräfte auf Augenhöhe, damit Veränderung gelingt. Stärker. Zukunftsfähiger. Menschlicher.

6y

Das Alte schätzen/wertschätzen ist essentiell, um Menschen auf die Reise zu bringen. Fehlt diese ehrliche Wertschätzung dem Geleisteten gegenüber, bauen sich unnötige Barrieren auf. Exponentielles Wachstum setzt ja auch auf Ebendem auf...alles nur eben schneller.

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