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Medizinjournalisten machen Druck: Initiative gegen gefährliche Pharma-Lügen gestartet

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Ärzteblatt-Initiative Pharmakonzerne sollen alle Daten offenlegen

Pharmakonzerne halten die Hälfte der Daten ihrer Arzneimittel-Tests geheim. Mögliche Risiken für Patienten werden so nicht bekannt, kritisieren Forscher. Das britische Ärzteblatt will diese Praxis nicht länger tolerieren.

Hamburg - Die Pharmaindustrie ist nicht nur schlecht. Sie entwickelt und produziert Arzneimittel, die gut für die Gesundheit sind und die Leben retten können. Sie schafft Jobs und fördert das wirtschaftliche Wachstum. Leider schafft und fördert sie aber auch viel Negatives, sagt Fiona Godlee, Chefredakteurin des renommierten "British Medical Journals" ("BMJ"). "Kontinuierlich und systematisch - und das über Jahrzehnte - wurden Daten aus klinischen Studien geheim gehalten oder nur falsch an die Öffentlichkeit gegeben ."

Es ist ein schwerer Vorwurf: Unzählige heute weit verbreitete und häufig eingesetzte Medikamente erschienen daher nützlicher und sicherer als sie wirklich sind - tatsächlich aber gefährden sie die Gesundheit der Menschen. Dieses Fehlverhalten sei durch nichts zu entschuldigen, schreibt Godlee nun in einem offenen Brief  - und kündigt weitreichende Konsequenzen an.

Als erste große medizinische Fachzeitschrift wird das "BMJ" ab 2013 klinische Studien zu Arzneimitteln nur noch publizieren, wenn der für die Arzneimittelentwicklung verantwortliche Hersteller anderen Forschern auf Verlangen Rohdaten zur Verfügung stellt. Und zwar alle Daten. Die anderen internationalen Journale diskutieren bereits, ob sie nachziehen.

Pfizer veröffentlichte nur ein Drittel der Daten

Arzneimittelhersteller stehen seit einigen Jahren im Verdacht, die Daten klinischer Studien in den Publikationen zu schönen. Zu einem Eklat in Deutschland kam es vor drei Jahren: "Pfizer behindert die bestmögliche Behandlung von Patienten mit Depression", erklärte Peter Sawicki, damals Chef des Instituts für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG). Die Arzneimittelexperten sollten den Nutzen verschiedener Antidepressiva bewerten, darunter auch Reboxetin von Pfizer. Zu Beginn der Untersuchung stellte sich heraus: Lediglich ein Drittel der Daten waren öffentlich zugänglich. Erst unter massivem öffentlichen Druck gab Pfizer die restlichen Ergebnisse schließlich heraus.

Deren Auswertung offenbarte dann einen möglichen Grund für die Geheimniskrämerei, schreibt das IQWiG in seiner finalen Auswertung : Die Daten aus den bislang veröffentlichten Studien legten nahe, Reboxetin könne Depressionen lindern. Bezog man jedoch auch die bislang geheim gehaltenen Ergebnisse mit ein, wurde der Effekt so klein, dass Patienten gar nicht mehr profitierten. Letztlich wurde das Mittel wieder aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen. In den USA war Reboxetin aufgrund negativer Studien zur Wirksamkeit erst gar nicht zugelassen worden.

Als einen ersten Schritt in die richtige Richtung bewertet "BMJ"-Chefin Godlee nun die geplante Initiative von GlaxoSmithKline (GSK) . Der britische Konzern will Wissenschaftlern ab sofort den Zugang zu detaillierten, anonymen Patienten-spezifischen Daten erlauben, um ihnen eigene Forschungen zu ermöglichen. Veröffentlichen will GSK auch Ergebnisse eingestellter Projekte, also im Forschungs- oder Zulassungsprozess abgebrochene Medikamenten-Studien.

Glaxo verschwieg kritische Studien

Kritiker bleiben skeptisch, schließlich war Glaxo erst im Mai in den USA zu einer Strafzahlung von drei Milliarden Dollar verdonnert worden. Vorausgegangen war das "größte Schlichtungsverfahren in Sachen Pharmabetrug in der US-Geschichte", wie der Generalstaatsanwalt James Cole es nannte. GSK hatte das Antidepressivum Paxil , das die amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) nur für Erwachsene zugelassen hatte, gezielt an Jugendliche weitergegeben und Gratisproben unter Psychiatern verteilt. Dazu kam ein bestellter Artikel in einer Fachzeitschrift, in dem fälschlicherweise behauptet wurde, klinische Studien hätten bewiesen, dass das Antidepressivum für Kinder geeignet sei.

In einem anderen Fall waren Studien, die auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Einnahme des Diabetesmittels Avandia und dem Auftreten von Herzerkrankungen hinwiesen, schlicht nicht weitergegeben worden.

So löblich der jüngste Schritt von Glaxo auch vor diesem Hintergrund sei, sagt "BMJ"-Chefin Godlee, zeigte sich doch die Absurdität des Systems. "Warum sind klinische Studiendaten nicht generell für andere Wissenschaftler zugänglich, wenn die Behörden über den Wirkstoff befunden haben? Wieso ist es den Firmen erlaubt, ihre Mittel öffentlich zu testen, die Ergebnisse dann aber geheim zu halten? Warum dürfen die Firmen überhaupt entscheiden, wer die Daten ansehen darf?"

Roche soll alle Tamiflu-Daten freigeben

Mit seinem aktuellen Vorstoß, diesem Treiben ein Ende zu setzen, zielt das "BMJ" vor allem in Richtung des Schweizer Pharma-Multis Roche. Seit über drei Jahren versuchen Forscher, Einblick in die noch unpublizierten Daten zu Tamiflu zu erhalten, die die Wirksamkeit des bestverkauften Grippemittels belegen sollen.

Bereits 2009 berichtete eine Forschergruppe der internationalen Cochrane Collaboration, es gebe Zweifel an der Wirksamkeit des Medikaments. Es fehlte etwa der klare wissenschaftliche Beleg dafür, dass Tamiflu Komplikationen wie etwa eine Lungenentzündung verhindern könne, berichtete das Team um den italienischen Epidemiologen Tom Jefferson .

Nach der Auswertung einiger bisher unveröffentlichter Unterlagen erneuerten die Forscher im Januar 2012 ihre Kritik: Die bisher bekannten Angaben zur Effektivität und Verträglichkeit des Grippemedikaments Tamiflu seien teilweise zu positiv. Tamiflu sei weniger wirksam und habe mehr Nebenwirkungen als vom Hersteller angegeben, schreiben die Wissenschaftler im Fachmagazin "Cochrane Database of Systematic Reviews". 

Auch für die jüngste Auswertung habe man noch nicht alle Daten vom Hersteller erhalten. Frustriert über die mangelnden Fortschritte haben die Epidemiologen dem "BMJ" nun alle Daten zu ihrer Forschung übergeben, darunter auch die Korrespondenz über Tamiflu mit der Weltgesundheitsorganisation WHO und dem amerikanischen Center for Disease Control and Prevention.

Die Mails zeigen, dass keine der Fragen der Forscher durch Roche beantwortet wurde. Das "BMJ" veröffentlicht sie nun unter einer speziellen Rubrik auf seiner Internetseite, auch alle weiteren Mails werden hier nachzulesen sein .

Der Pharmakonzern Roche weist die Kritik seitens des "British Medical Journals" zurück. "Wir erfüllen alle rechtlichen Anforderungen bezüglich der Datenpublikation", sagt eine Sprecherin SPIEGEL ONLINE, aber man stelle grundsätzlich aus rechtlichen Gründen und Geheimhaltungsauflagen keine Patientendaten zur Verfügung. Roche habe den Wissenschaftlern der Cochrane Collaboration Zugang zu 3200 Seiten detaillierter Informationen gegeben, die die Beantwortung ihrer Fragen ermöglichte. "Die Cochrane Gruppe hatte weitere Fragen und wollte zusätzliche Daten, war jedoch nicht bereit eine Vertraulichkeitserklärung zu unterzeichnen." Den Vorwurf der mangelnden Transparenz weißt Roche zurück.

In der Kritik steht der Konzern derzeit noch an anderer Stelle: Die britischen Aufsichtsbehörde Medicines and Healthcare Products (MHRA) ermittelt aktuell gegen Roche. Sie wirft dem Konzern vor, unerwünschte Arzneimittelwirkungen nicht entsprechend den Regeln zur Pharmakovigilanz weitergeleitet zu haben. Die europäische Arzneimittelagentur EMA hat die Ermittlungen aufgenommen, deren Ergebnis steht aber noch nicht fest.