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Wissenschaft Bitte nicht rupfen

Darum muss das Unkraut in der Stadt wuchern

Nur die Harten kommen durch: Wildwuchs im Asphalt Nur die Harten kommen durch: Wildwuchs im Asphalt
Nur die Harten kommen durch: Wildwuchs im Asphalt
Quelle: Getty Images/Westend61
Wildwuchs zwischen Gehwegplatten ist für viele Hobbygärtner ein Graus. Dabei ist der Lebensraum für Pflanzen in der Stadt nicht zu unterschätzen. Darum braucht die sogenannte „Fugenvegetation“ Schutz.

Der Erste, der ihre Besonderheit erkannte, war der britische Wissenschaftler Richard Deakin. Als er im Jahr 1855 das bröckelnde Kolosseum in Rom untersuchte, schaute er sich an, was andere Forscher ignorierten oder verärgert übergingen. Akribisch erfasste er alles Grüne, das in dem alten Gebäude wucherte – und das andere nur als Unkraut wahrnahmen. Am Ende präsentierte er 420 Pflanzenarten: Gräser, Farne, Rosen, Stauden und Büsche, die die Mauern erobert hatten. Die sich „triumphierend über die Ruinen eines einzelnen Gebäudes erheben“, wie er notierte.

Der Botaniker Dietmar Brandes hat kürzlich bei seiner Suche in Fugen und Steinritzen fast 500 gefunden – allein innerhalb Braunschweigs. Das ist die Hälfte aller Pflanzenarten, die in der gesamten Stadt vorkommen. Brandes ist Professor und führt an der lokalen Universität Deakins Erbe weiter: Er erforscht, welche Pflanzen sich in den Städten Europas, Nordafrikas und Westasiens wohlfühlen – und welche Nischen sie gefunden haben. „Steinritzen“, sagt er, „sind ein wichtiger Lebensraum für Pflanzen, den man nicht ohne Grund zerstören sollte.“

In Kleingärten verhasst: Fugenvegetation
In Kleingärten verhasst: Fugenvegetation
Quelle: Getty Images/Dorling Kindersley

Fugenvegetation nennt man all die kleinen Pflanzen, die sich in diesem speziellen Lebensraum ansiedeln. Die nicht nur in Mauerritzen leben, sondern auch im Boden der Stadt, unter Schuhsohlen, Autoreifen und Hundepfoten, die zäh und störrisch die Fugen von Gehwegen emporkriechen, sogar aus Asphaltritzen quillen. Die Räume zum Leben sind eng und klein, noch dazu bieten sie nur wenig Nährstoffe.

Und doch sind diese kleinen Räume wie geschaffen für Hartgesottene und Spezialisten, die sonst schwerlich Platz in der Stadt finden. Denn die Ritzen bieten Bedingungen, die sie für einige Arten zu einem perfekten Ort macht. Untersuchungen zeigen, dass die Flora in den meisten Städten sogar weitaus vielfältiger ist als die im Umland. Je größer die Stadt, desto mehr Pflanzenarten wachsen in ihr. Das liegt vor allem an der Fugenvegetation: Sie nutzt jede noch so kleine Chance, die sie geboten bekommt.

Jede Pflanze kann sich ihren idealen Standort aussuchen

Alte, verfallene Gebäude wie das Kollosseum und Stadtzentren wie das in Braunschweig bieten ganz unterschiedliche Bedingungen für Pflanzen. Dazu kommen Parks, Industrieviertel, Neubaugebiete, Friedhöfe, Schnellstraßen, Rangierbahnhöfe: Sie alle sind mehr oder weniger nährstoffreich, bewässert, exponiert oder betreten. Jede Pflanze kann sich den Ort aussuchen, der am besten zu ihren Ansprüchen passt. Immer gibt es Ecken, in die kaum oder gar kein Licht fällt und die dadurch oft kühl und feucht sind, oder umgekehrt Oberflächen, die nie im Schatten liegen.

Auch die Beschaffenheit der Böden schwankt innerhalb selbst kurzer Distanzen: Mal ist es festes Gestein, das nur von einer dünnen Schicht Sand bedeckt wird, dann wieder eine gleichmäßig poröse Oberfläche oder sogar mehrere Zentimeter tiefer fruchtbarer Boden. All diese Räume haben ihre Pendants in der freien Natur. Die russische Ökologin Maria Ignatieva vergleicht etwa das Straßenpflaster in den Städten mit Felsenkanten oder Felsplattformen, wie sie ganz natürlich vorkommen.

Für all diese unterschiedlichen Lebensräume haben sich Spezialisten gefunden, die unter den entsprechenden Bedingungen gut gedeihen. Sei es der kleine, kriechende Vogelknöterich, der auf öden Brachflächen einer der Ersten ist, der sich ansiedelt, essbare Wildkräuter wie der Beifuß, der nährstoffreiche Böden bevorzugt, oder Gewächse wie Klee und Vogelmiere, die in jeder Steinritze gut zurechtkommen.

Weil es in Städten dank der Versiegelung von Böden durch beispielsweise Asphalt oder Gehwegplatten durchschnittlich wärmer ist als im Umland, siedeln sich hier häufig auch Pflanzen an, die ihre ursprüngliche Verbreitung in südlicheren Gebieten haben. Solche Kulturfolger genannten Pflanzen sind zum Beispiel die Mäusegerste oder die Robinie, deren Schösslinge manchmal in den Ritzen an Mauern sprießen. Daneben gibt es hier vermehrt extra angepflanzte und bisweilen exotische Garten- und Zierpflanzen.

Die Stadt bietet ganz besondere Entwicklungsbedingungen

Zu der großen Artenvielfalt in den Städten tragen sie alle bei, wie deutsche Ökologen in einer Untersuchung in Sachsen-Anhalt zeigten: In Städten gibt es nicht nur mehr heimische Arten als im Umland, auch ursprünglich gebietsfremde Pflanzenarten kommen hier häufiger vor. Und heimische und nicht heimische Arten bleiben nicht immer nur unter sich: Durch die engen Räume in Steinritzen und an anderen Orten in der Stadt treffen ähnliche Arten öfter aufeinander und vermischen sich – das würden sie in der Natur eher nicht.

Löwenzahn zwischen Wegplatten, aufgenommen am 30.4.2012 in Berlin. Foto: Jens Kalaene dpa/lbn | Verwendung weltweit
In den unscheinbaren Steinritzen der Stadt finden manche Pflanzen perfekte Lebensbedingungen
Quelle: Jens Kalaene-picture alliance / ZB
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Der Dreifinger-Steinbrech, ein rötliches Kräutlein mit kleinen weißen Blüten, ist ein solches Gewächs, das ursprünglich aus dem Mittelmeerraum stammt, mittlerweile aber auch hierzulande heimisch ist. Für ihn ist der nährstoffarme Boden der Steinritzen der ideale Lebensraum. Denn er braucht zum Wachsen nicht viel. Andere Pflanzen, etwa der Klee oder das Hirtentäschelkraut, brauchen aber besonders viel Stickstoff – und der wird in Städten durch Abfälle wie Hundekot besonders reichlich in die Böden eingebracht. Das ist manchen Pflanzen wie dem Steinbrech zu viel, und sie gehen an dem Überschuss ein. Er und andere kleinwüchsige Arten, die normalerweise auf nährstoffarmen Trocken- und Halbtrockenrasen vorkommen, suchen sich also lieber stickstoffarme Plätze in der Stadt.

Das alles fasziniert Brandes, den Braunschweiger Botaniker, sehr. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit der Pflanzenvielfalt in deutschen und europäischen Städten, und lernt immer mehr dazu. So zum Beispiel, dass einige Arten die Fugen als Samenbank nutzen, gewissermaßen. Als eine Art Refugium im Boden, eine Vorsichtsmaßnahme, für die Zeit, wenn die Pflanzen nirgendwo sonst mehr Platz finden.

In Kleingärten gilt ungeplant Gewachsenes schlicht als Unkraut

Wichtig ist ihm auch zu betonen, dass die kleinen Bewohner der Stadt, in der sie leben, durchaus nützlich sind. So tragen die Pflanzen in den Fugen dazu bei, dass sich die Luft verbessert und der Wasserhaushalt im Boden reguliert wird. „Pflasterritzen sind wichtig für die Versickerung von Niederschlag im Boden“, sagt er. Und Pflanzen, die hier wachsen, nehmen zusätzlich Wasser auf. Ihr Wurzelwerk sorgt außerdem dafür, dass der Boden befestigt wird und weniger stark abgetragen werden kann. Bei Pflanzen mit starken Wurzeln, wie etwa dem Löwenzahn, kann das so weit führen, dass der Boden dabei nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz real aus den Fugen gerät.

Brandes mag noch so begeistert sein, bei anderen ist vom Zauber des Wildwuchses oder gar Begeisterung für dergleichen wenig zu spüren. Vor allem in deutschen Kleingärten, sagt er, sehe man alles, was ungeplant wächst, schlicht als Unkraut. Mit Phrasen wie „Anliegerweganteile sind von Unkraut frei zu halten“ oder „Der Pächter ist verpflichtet, den Garten und den an seinen Garten angrenzenden Weg stets rein und frei von Gras zu halten“ rufen die Satzungen der Kleingartenkolonien zum Kampf gegen das wilde Grün auf.

Hier überwuchert ein Unkraut eine ganze Kleinstadt

Ein Unkraut namens „Hairy Panic“ nimmt die australische Kleinstadt Wangaratta ein. Garagen, Vorgärten, Terrassen: das Gras ist überall. Während die Bewohner ächzen, bleiben die Behörden untätig.

Quelle: Die Welt

„Die Deutschen stellen Gartenzwerge auf und zupfen den ganzen Tag Unkraut“, stellte schon der russische Schriftsteller Wladimir Kaminer in seinem Buch „Mein Leben im Schrebergarten“ fest. Die Fugenvegetation, die sich selbst Platz im Garten nimmt, sie wird platt getreten, ausgerissen und sogar verbrannt. „Manche Kleingartenvereine haben eine geradezu beängstigende Vorstellung von Sauberkeit und meinen, damit auch noch die Biodiversität zu fördern“, sagt Dietmar Brandes. Der kleine Dreifinger-Steinbrech etwa, der es aus dem Mittelmeerraum bis hierher schaffte, er war in einigen Regionen Deutschlands zwischenzeitlich sogar vom Aussterben bedroht, weil man sich so gegen seine Existenz wehrte. Heute haben sich seine Bestände wieder etwas erholt.

Rupfen, bürsten oder abbrennen statt mit Chemie zu arbeiten

Das liegt auch daran, dass die Stadtverwaltungen den Kampf gegen den Wildwuchs inzwischen ziemlich zurückgefahren haben. Vor wenigen Jahrzehnten sah das noch ganz anders aus. In den 60er- und 70er-Jahren, so erzählt Brandes, hätten die Grünflächenämter in allen deutschen Großstädten großflächig versucht, das Unkraut in allen Steinritzen loszuwerden. Es sei einfach verpönt gewesen, sich mit für unnütz befundenem Unkraut zu umgeben.

Mit Breitband-Herbiziden ging man daher in Kommunen und Städten auf das unliebsame Grün los, allen voran mit Glyphosat-haltigen Chemikalien wie dem weit verbreiteten Unkrautvernichter RoundUp. Noch heute ist es das Mittel, das am häufigsten in Städten eingesetzt wird. Wenn auch mit inzwischen immer mehr Einschränkungen: So ist der Einsatz von Glyphosat seit 2014 beispielsweise in Städten in Nordrhein-Westfalen verboten. Orte wie Witten oder Iserlohn versuchen gar, ganz ohne Herbizide auszukommen.

Hier heißt es stattdessen rupfen, bürsten oder abflämmen – oder man versucht, mit heißem Wasserdampf direkt das Wurzelwerk anzugreifen. Ganz ohne Wildwuchs wird es jedoch nie gehen, davon ist Dietmar Brandes überzeugt. „Eine Stadt ohne Fugenvegetation wird auf Dauer richtig teuer“, sagt der Botaniker, denn der Kampf gegen das vermeintliche Unkraut erfordere einfach zu viel Geld. Zudem sei der Erfolg auch nicht von langer Dauer, winkt Brandes ab. Was man auch tue, die Fugenvegetation komme ja doch immer wieder – spätestens im nächsten Jahr.

Wie man in England eine Lampe aus der Erde wachsen lässt

In der englischen Grafschaft Derbyshire lassen die Gärtner des Projekts „Full Grown“ Möbel aus der Erde wachsen. Sie lenken das Wachstum von Bäumen so, dass sie die Form von Möbelstücken annehmen.

Quelle: Die Welt

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