Nanny State Index

Streit um Sündensteuern

Deutschland legt innerhalb der EU am wenigsten die fiskalischen und regulatorischen Daumenschrauben an, wenn es um Prävention in puncto Alkohol, Tabak, E-Dampf und Zucker geht, so eine aktuelle Untersuchung. Das könnte die Zuckerdebatte befeuern.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Bemuttert der Staat die Konsumenten nicht genug? Eine Zuckersteuer ist ein Vorschlag, um Konsumenten von ungesunder Ernährung abzubringen.

Bemuttert der Staat die Konsumenten nicht genug? Eine Zuckersteuer ist ein Vorschlag, um Konsumenten von ungesunder Ernährung abzubringen.

© elenachaykina / stock.adobe.com

Für Freiheitsliebende ist es der Ausdruck eines liberalen Staates, aus der Sicht von Präventionspolitikern ist es schlicht ein Armutszeugnis. Der am Dienstag vom European Policy Information Center (Epicenter), einer Gruppe freiheitsorientierter Think Tanks, veröffentlichte „Nanny State Index 2019“ zeigt, dass Deutschland im EU-Vergleich am zurückhaltendsten ist mit potenziellen regulatorischen und fiskalischen Steuerungsmöglichkeiten, um Prävention in puncto Alkohol-, Tabak-, E-Zigaretten- oder auch Zuckerkonsum zu betreiben.

Anhand von 35 Kriterien in den Kategorien Alkohol, Getränke, Lebensmittel, E-Zigaretten und Tabakprodukte werden für den Index seit 2016 die „besten“ und „schlechtesten“ Länder zum Gebrauch von Genussmitteln ermittelt. „Deutschland ist das beste Land in der EU, um zu trinken, zu rauchen, zu dampfen und zu essen.

Es gibt keine Steuern auf Liquids für E-Zigaretten, keine Zuckersteuer, und es gibt weitgehend liberale Regeln für Werbung“, heißt es in der Länderzusammenfassung. Ergänzt wird dies durch den Hinweis darauf, dass sowohl die Alkohol- als auch die Tabaksteuer – kaufkraft-adjustiert – weit unter dem EU-Schnitt liegen.

Zuckersteuer bereits in neun EU-Ländern etabliert

Laut den Autoren der Studie wurde bereits in neun EU-Mitgliedstaaten eine Steuer auf zuckerhaltige oder künstlich gesüßte Softdrinks eingeführt. Diese belaufe sich in einer Spanne von fünf Cent je Liter in Ungarn bis zu 30 Cent in Irland.

Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) hält indes noch wenig von einer Zuckersteuer. Im Rahmen ihrer vom Bundeskabinett kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres verabschiedeten „Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten“ setzt sie auf die Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie. Die soll mittels Reformulierungen der Rezepturen bis 2025 vereinbarte Ziele bei Zucker-, Fett- und Salzgehalten erreichen.

Dafür bekommt sie heftigen Gegenwind – unter anderem von ärztlicher Seite. So haben sich die Deutsche Allianz Nicht-übertragbare Krankheiten (DANK), die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und das Ethnomedizinische Zentrum zusammen mit dem AOK-Bundesverband sowie der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch zum Bündnis „Aktion weniger Zucker“ zusammengeschlossen.

Das Bündnis pocht, wie beim Zweiten Zuckerreduktionsgipfel der AOK im Oktober zu sehen war, auf „steuerliche Anreize für die Lebensmittelindustrie, gesündere Rezepturen zu entwickeln“ – also eine Zuckersteuer. In der Schusslinie steht Klöckner aber nicht nur in puncto Zuckersteuer. Von DANK und damit von Ärzteseite wird sie gedrängt, bei Lebensmittelkennzeichen auf die Tube zu drücken und nicht auf eine Evaluation des von der Ministerin beauftragten Max-Rubner-Instituts (MRI) zu warten.

Laut DANK herrscht gerade nach der – noch nicht rechtskräftigen – Entscheidung des Landgerichts (LG) Hamburg zum Nutri Score noch mehr präventionspolitischer Handlungsdruck, um effektiv gegen die Zunahme von Adipositas, Diabetes sowie weiteren Erkrankungen in Deutschland zu kämpfen.

Das Gericht hatte Iglo aus wettbewerbsrechtlichen Gründen untersagt, künftig das bereits in mehreren Ländern auf freiwilliger Basis eingeführte Kennzeichnungssystems auf Produktpackungen zu verwenden.

Gesunde Ernährung auf dem politischen Radar

Aufwind könnten die Befürworter einer Zuckersteuer und weiterer, drastischerer Präventionsmaßnahmen in Deutschland aus anderen EU-Mitgliedstaaten bekommen. Denn gesunde Ernährung und Prävention genießen nach Einschätzung der Epicenter-Autoren auf der politischen Ebene in Gesamt-Europa hohe Aufmerksamkeit.

Die fiskalischen und regulatorischen Daumenschrauben gelockert zu bekommen, sei auf längere Zeit nicht möglich, so die Freiheitsdenker. „Einflussreiche, von aktivistischen Milliardären finanzierte Interessengruppen setzen sich leidenschaftlich für eine tabakartige Regulierung des Essens- und Softdrink-Sektors ein. Rotes und verarbeitetes Fleisch, zuckerhaltige Getränke und energiereiche Lebensmittel sind auf dem Radar der ‚Public-Health-Lobby‘ wie nie zuvor“, heißt es im „Nanny State Index“.

Des Weiteren seien die baltischen Staaten von EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis aufgefordert worden, eine Zuckersteuer einzuführen. In Irland werde darüber debattiert, Zucker, Fett und Salz gesetzlich zu begegnen – Vorbild sei eine entsprechende den Alkohol betreffende Gesetzgebung von 2018. In Großbritannien werde über eine „Puddingsteuer“ für Lebensmittel mit hohem Fett- Salz- und Zuckergehalt diskutiert.

Den Studienautoren zufolge soll übrigens Finnland auch 2019 innerhalb der EU seinen ersten Platz auf dem Siegertreppchen verteidigen, wenn es um die drastischsten fiskalischen sowie regulatorischen Präventionsmaßnahmen geht.

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