Wider die blanke Not

Kann Architektur angesichts der Flüchtlingskrise Integrationshilfe leisten, oder genügt den Heimatlosen ein Dach über dem Kopf? Die Debatte hat begonnen. Bereits entwerfen Architekten Unterkünfte.

Gabriele Detterer
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Schön anzusehen, aber nur im Freien benutzbar – Flüchtlingshäuser von Ikea in einem Olivenhain auf Lesbos. (Bild: Better Shelter)

Schön anzusehen, aber nur im Freien benutzbar – Flüchtlingshäuser von Ikea in einem Olivenhain auf Lesbos. (Bild: Better Shelter)

Vor über fünfzig Jahren wurde er notiert, und noch heute klingt er hochaktuell: der von Sigfried Giedion in der Textsammlung «Architektur und Gemeinschaft» formulierte Satz: «Der Stand einer Kultur hängt davon ab, bis zu welchem Grad eine chaotische Masse in eine integrierte lebendige Gemeinschaft verwandelt werden kann.» Auf den Zusammenhang zwischen Demokratie, Kultur und Integration hinweisend, forderte Giedion den Bau von «differenzierten Siedlungen», um die vielfältigen Lebensstile einer offenen Gesellschaft zu berücksichtigen. Der im Wohnungsbau oft missachtete Ruf nach Durchmischung anstelle von Exklusion und Ghettobildung erhält derzeit durch den Flüchtlingsstrom hohe Dringlichkeit. Über eine Million Zuwanderer erreichten 2015 Deutschland, davon stellten rund 442 000 einen Asyl-Erstantrag. Die Schweiz zählte einen Anstieg von 23 700 Asylgesuchen (2014) auf deren 39 500 im Jahr 2015, und Österreich nahm 90 000 Asylanträge entgegen.

Verantwortung der Architektur

Im Krisenjahr 2015 rief Uno-Flüchtlingskommissar António Guterres zu Toleranz, Mitgefühl und Solidarität gegenüber den Menschen auf, die alles verloren haben. Wie aber stellt sich die Architektenschaft der Gastländer zu diesem Appell? Was tragen Architekten dazu bei, die Ausnahmesituation, die sich durch das Defizit an Unterkünften noch verschärft, zu mildern? Dabei stellt sich die Not als zweifacher Mangel dar: Erstens mangelt es an temporären Unterkünften für Asylbewerber, und zweitens fehlt es – angesichts des zumindest in der Schweiz völlig ausgetrockneten Mietmarktes – an günstigem Wohnraum für diejenigen, die längere Zeit oder dauerhaft im Gastland bleiben können. Denn wer Bleiberecht erhält, möchte in eine Wohnung umziehen und die räumliche Enge und die sozialen Probleme, die den Alltag in Notunterkünften belasten, hinter sich lassen.

Bis Ende März entsteht nach dem Entwurf von YES Architekten aus München die sozial durchmischte Münchner Mustersiedlung für Flüchtlinge und Studenten, deren Grundmodul aus mit Holz und Putz verkleideten Übersee-Container besteht. (Bild: © YES Architekten)

Bis Ende März entsteht nach dem Entwurf von YES Architekten aus München die sozial durchmischte Münchner Mustersiedlung für Flüchtlinge und Studenten, deren Grundmodul aus mit Holz und Putz verkleideten Übersee-Container besteht. (Bild: © YES Architekten)

Der Fehlbestand an Unterkünften und Wohnraum ruft frühere Zeiten in Erinnerung. Nach dem Ersten Weltkrieg löste die Wohnungsnot in Deutschland einen Schub modernen sozialen Wohnungsbaus aus. Neue Bautechniken wie die Verwendung vorgefertigter Module verbreiteten sich rasch. Treiber des modernen Siedlungsbaus waren Walter Gropius, Bruno Taut, Hans Scharoun und der Schweizer Otto Rudolf Salvisberg. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der Wiederaufbau von Wohnsiedlungen dem Prinzip des «schnellen, billigen grauen Plattenbaus».

Darüber, ob die gegenwärtige Flüchtlingskrise und die Wohnungsnot das Aufgabenfeld «Architektur und Bauen» verändern werden, gehen die Meinungen auseinander. Skepsis äussert Jacques Herzog vom Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron. Er ist der Auffassung, «dass die grosse Veränderung nicht die Welt des Bauens und der Architektur trifft, nicht einmal diejenige des Städtebaus». Für ihn ist «das Problem nicht primär architektonisch und technisch». Die Herausforderung besteht laut Herzog vielmehr darin, «den grossen Zustrom von Menschen gesellschaftlich und ganz konkret im Alltagsleben der bestehenden Quartiere zu assimilieren. Man kann und soll ja keine Ghettos bauen, um die Bildung von Parallelwelten zu vermeiden. Lösungen wie urbane Verdichtung und provisorische Wohnbauten sind immer möglich – wenn das aber ein vernünftiges Mass überschreitet, ist das gesellschaftspolitische Thema ungleich schwieriger zu meistern.»

Aus diesen Überlegungen heraus entwerfen Herzog & de Meuron keine Bauten für Flüchtlinge und Migranten. Wohl gäbe es, laut Herzog, «viele Kollegen, die mit guter Architektur einen Beitrag für diese Menschen in ihrer schwierigen Lage leisten wollen. Aber: Ist ein Dach über dem Kopf – wortwörtlich verstanden – nicht viel dringlicher als gutes Design? Denn Architektur ist nicht so wichtig, wie wir sie aus unserer Warte manchmal wahrnehmen.»

Ein Dach über dem Kopf finden Ankömmlinge in Provisorien wie Turnhallen, Schwimmbädern, Kasernen, Messehallen oder aufgegebenen Einkaufszentren. In Berlin wurde sogar der stillgelegte Flughafen Tempelhof zum Massenlager umfunktioniert. In Thun entsteht ein Aufnahmezentrum in einer Halle, in der das Militär bis anhin Panzer abstellte. Auch in Bunkern quartiert man in der Schweiz Asylbewerber ein. Ist sichergestellt, dass tagsüber ein überirdischer Aufenthaltsort zur Verfügung steht, hat das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) laut Auskunft der Medienstelle keine Bedenken, Bunker als Notquartiere zu öffnen. Diese Tatsache scheint für Schweizer Architekten kein Ansporn zu sein, nach humanen baulichen Lösungen für die Unterbringung von Flüchtlingen und Migranten zu forschen. Dabei zeigt sich längst, dass weder temporäre Unterkünfte noch urbane Verdichtung ausreichen werden, um den steigenden Wohnraumbedarf zu decken.

Bereits mehr als nur ein Dach über dem Kopf für Schutzsuchende entwarfen indes deutsche Architekten. Angesichts des Ausnahmezustandes entwickeln sie sowohl für Erstaufnahmezentren wie für die anschliessende Unterbringung alternative Projekte. Allein dem Aufruf des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt (DAM), Bauten für Flüchtlinge vorzuschlagen, folgten im letzten Herbst über fünfzig Architekten. Ziel des Aufrufes war es, so Oliver Elser vom DAM, das Interesse der Architekten am «Bauen für Flüchtlinge» festzustellen. Die Resonanz war grösser als erwartet. Unter den Entwürfen fiel derjenige von Yes Architecture (Ruth Berktold) aus München auf.

Der Container als Wohnmodul

Das Konzept variiert das Modul Schiffscontainer zu einer Gemeinschaftssiedlung mit Dorfcharakter. Mit aufgeständerten Containern, die durch Stege verbunden werden, soll der übliche Container-Stapelbau humanisiert werden. Nicht nur Immigranten, sondern auch Studenten und Lehrlinge könnten in dieses «Dorf» mit Freiflächen und Gärten einziehen, heisst es. Utopisch? Man wird sehen, ob die Durchmischung eine Chance hat. Bis Ende März soll nach den Plänen von Yes Architecture in München eine Mustersiedlung errichtet werden.

Ein Vorzeigeprojekt der Umsetzung von «Differenzierung und Integration durch soziale Durchmischung» in bauliche Realität entsteht ebenfalls in München. Die Architekten Benedikt Esche, Lena Kwasow und Jonas Altmann wurden vom Initiator des Projektes, Wolfgang Nöth, beauftragt, ein Hallenareal von 2300 Quadratmetern so umzubauen, dass Immigranten mit Künstlern und Kreativen Tür an Tür leben können. Trotz solchen Versuchen leasen jedoch vielerorts Städte aufgrund des Zeitdrucks Standardcontainer und Zelte. Dabei stehen Asylbewerbern in Bundesländern wie Baden-Württemberg als Mindestfläche nur 4,5 Quadratmeter Platz zu – und dies, obwohl sie je nach Dauer der Bearbeitung des Asylgesuches bis zu zwei Jahre in der Unterkunft ausharren müssen.

Unter dem Motto «Do it yourself!» verzichtet ein beachtenswerter Entwurfsansatz, der vom Berliner Architekten Max Schwitalla in Kooperation mit dem Schweizer Unternehmen Schindler entwickelt wurde, ganz auf Containermodule. Ausgehend vom Konzept «Das urbane Regal – Gemeinschaft bauen», möchten sie das «Partizipationspotenzial der Flüchtlinge aktivieren». Ein baulicher Rahmen mit Infrastruktur wird bereitgestellt. Separat von Statik und Technik wird daraufhin der Aus- und Einbau von Wohnraum vollzogen. Beim Ausbau des offenen Rahmens mit flexibel einzubauenden Wohneinheiten wirken die künftigen Bewohner mit. Während der Mitarbeit erwerben die Zuwanderer Kenntnisse, wie im Ankunftsland gebaut und gesprochen wird. Dieses Wissen können sie für ihren Verbleib im Land, aber auch nach einer allfälligen Rückkehr in die Heimat nutzen. Ein sinnvolles Experiment, das Realität werden könnte. Denn Max Schwitalla ist derzeit mit dem Baudezernenten der Stadt Tübingen, die das Projekt umsetzen möchte, im Gespräch.

Integrationsfördernde Bauten

Ähnlich wie Max Schwitallas «Urbanes Regal» ist auch das Bauprojekt der Vorarlberger Architekten Postner, Duelli, Kaufmann nicht nur für Flüchtlinge gedacht, sondern kann auch einheimischen Wohnungssuchenden angeboten werden. Die Idee, Fertigbau-Holzhäuser unter Mithilfe der künftigen Bewohner zu errichten, schlägt Brücken. Die neuangekommenen Flüchtlinge oder Migranten lernen Vorarlberger Holzbaukunst kennen und erleben Teamarbeit und Nachbarschaft mit Ortsansässigen. Einfache Selbstbauhütten für Obdachlose hat auch Ikea im Angebot. In Mytilini auf Lesbos werden sie bereits rege genutzt. Die Stadt Zürich und der Kanton Aargau wollten diese Hütten in grossen Hallen zu kleinen Flüchtlingsdörfern zusammenstellen. Doch im letzten Augenblick verhinderten Brandschutzbestimmungen die Benutzung der leicht entflammbaren Do-it-yourself-Hütten von Ikea.

Wolf D. Prix vom Wiener Büro Coop Himmelb(l)au, der die Modulbauweise aus anonymen «Kisten» scharf kritisiert, hat eine offene, lichtvolle Gebäudestruktur entworfen, in der nahe beim Wiener Hauptbahnhof ein Zentrum für Kultur, Soziales und Gesundheit mit Wohnraum für Flüchtlinge und Obdachlose vereint werden soll. (Bild: M. Pillhofer / Coop Himmelb(l)au)

Wolf D. Prix vom Wiener Büro Coop Himmelb(l)au, der die Modulbauweise aus anonymen «Kisten» scharf kritisiert, hat eine offene, lichtvolle Gebäudestruktur entworfen, in der nahe beim Wiener Hauptbahnhof ein Zentrum für Kultur, Soziales und Gesundheit mit Wohnraum für Flüchtlinge und Obdachlose vereint werden soll. (Bild: M. Pillhofer / Coop Himmelb(l)au)

Notwendig sind grundlegende städtebauliche Überlegungen zum Unterbringungsnotstand. Unter den Projekten, die die Mithilfe künftiger Bewohner beim Ausbau des Rohbaus vorsehen, trumpft die Wiener «Rettungsinsel» als beispielhaftes Konzept auf. Entworfen hat sie Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au, der die Modulbauweise aus anonymen «Kisten» scharf kritisiert. Das Bauprojekt sieht eine offene, lichtvolle Gebäudestruktur vor, in der nahe beim Wiener Hauptbahnhof ein Zentrum für Kultur, Soziales und Gesundheit mit Wohnraum für Flüchtlinge und Obdachlose vereint werden soll. «Zeitrichtige Architektur ist sozial», sagte Prix schon 1983. Angesichts der Migrationswellen gewinnt diese Aussage als Richtziel für den Städtebau an Relevanz.

Weltweiter Migrationsdruck

Der Anstieg an Asylbewerbern, die in Europa Zuflucht suchen, lässt vergessen, dass die Flüchtlingskrise nicht auf Europa begrenzt ist. Weltweit waren im vergangenen Jahr 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Prognosen gehen davon aus, dass der Migrationsdruck weiter zunehmen wird. Die Entwurzelung unzähliger Menschen wird zur globalen Herausforderung, die viele Architekten nicht kaltlässt. Auf Anfrage hin bestätigt Rem Koolhaas vom Rotterdamer Büro OMA sein Interesse, Unterkünfte für die Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen zu entwerfen. Derzeit ist Koolhaas mit einer Nichtregierungsorganisation in Kontakt.

Schon seit dem verheerenden Kobe-Erdbeben von 1995 in Japan entwirft Shigeru Ban «emergency shelters» für Flüchtlinge und für Katastrophenopfer. Ban, der 2014 nicht zuletzt für seine «kreative Verwendung unkonventioneller Materialien wie etwa Papier beim Bau von Notunterkünften für Krisengebiete» mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet wurde, gründete das Netzwerk VAN (Voluntary Architects' Network), das beispielsweise 2015 in Nepal mit und für Menschen, denen das grosse Erdbeben alles genommen hatte, einfache Häuser errichtete. Auch der frisch gekürte chilenische Pritzkerpreisträger Alejandro Aravena widmet sich der Aufgabe, Migranten ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. «Reporting from the Front» lautet denn auch das Thema der von Aravena geleiteten diesjährigen Architekturbiennale Venedig, die einen dauerhaft konfliktreichen Sachverhalt ins Licht rücken will: die Kluft zwischen den Komfortzonen des Wohnens und dem Defizit an schützendem Wohnraum für Bedürftige und Heimatlose.