Kolumne

Die Soziologie der Einsamkeit

Verkehrsfreie Zonen und Gebiete ohne WLAN beleben die Stadt.

Stefan Betschon
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Weg ins Virtuelle: Google Intersection offeriert Gratis-Internet in NYC. (Bild: PD)

Weg ins Virtuelle: Google Intersection offeriert Gratis-Internet in NYC. (Bild: PD)

Eine Ansammlung von Häusern entlang einer Strasse bildet ein Dorf. Eine Stadt wird daraus, wenn eine zweite Strasse dazukommt, wenn eine Kreuzung eine Verlangsamung erzwingt. Ein Dorf ist ein Dorf, auch wenn es viele Häuser umfasst, eine Stadt ist eine Stadt, weil hier Verkehrsströme sich mischen, Menschen sich einander in den Weg stellen, einander nicht ausweichen können, weil verschiedene Herkünfte und Zukünfte miteinander in Beziehung treten, weil hier Richtungsänderungen möglich sind. Die Stadt ist eine Verkehrsbehinderung – Hindernis zu sein, ist ein Wesensmerkmal der Stadt.

Stadtplanung ist der Versuch, Verkehrsbehinderungen zu beseitigen. Durch die Windschutzscheibe betrachtet, verschwimmt die Grenze zwischen Stadt und Land, alles wird Vorstadt.

In den USA ist die Vervorstädterung schon weit vorangeschritten. Auch das Silicon Valley, Zentralort der Computerwelt, ist eine Ansammlung von Vorstädten. Nicht die Internet-Technik hat diese Wucherung – Sprawl genannt – hervorgebracht, sondern umgekehrt, so ist zu vermuten, hat diese Siedlungsstruktur, die kein Zentrum kennt, die Internet-Technik geprägt. Es ist kein Zufall, dass die Soziologie der Einsamkeit (Riesmann: «Die einsame Masse», Putnam: «Bowling Alone») eine amerikanische Erfindung ist. Angesichts dieser Einsamkeit kann es auch nicht erstaunen, dass sich virtuelle Sozialnetze hier zuerst herausgebildet haben.

Werbung - was sonst?

Amerikanische Computerfirmen sehen sich berufen, auf die Stadtplanung weltweit Einfluss zu nehmen. Mit einem Pilotprojekt in Stockholm glaubt IBM gezeigt zu haben, wie Traffic-Management-Software, die das Umfahren von Staus erleichtert, die Stadt lebenswerter, die Welt «smarter» macht.

Auch Google engagiert sich für die Städte, möchte «Gemeinschaften gestalten, die effizienter sind». Eine Tochterfirma – Intersection genannt – hat jetzt in New York City, an der Ecke, wo die 15th Street auf die 3rd Avenue trifft, eine Säule am Strassenrand enthüllt, einen sogenannten WiFi-Kiosk, witterungsbeständig und vandalensicher. Er offeriert über WLAN-Antennen einen kostenlosen und schnellen Internetzugang. Bald soll es in New York City Tausende solcher Kioske geben. Das privat finanzierte, LinkNYC genannte Projekt lebt von der Werbung, die WiFi-Kioske sind auch elektronische Plakatsäulen. Bis in zwölf Jahren soll LinkNYC 500 Millionen Dollar einspielen.

Flucht aus der Stadt

Der urbane Mehrwert der Steigerungsformen von «smart» oder «efficient» ist schwer zu fassen. Eine Interpretationshilfe bietet das Buch «The New Digital Age» (2013) der Google-Manager Jared Cohen und Eric Schmidt. Die 440 Seiten sind rasch zusammengefasst: Vernetzung ist gut, Vernetzung verändert alles, Veränderung ist gut, die Veränderung beschleunigt sich, die Beschleunigung ist eine Folge der Beschleunigung, die «Kommunikationstechnologien verbreiten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit», «sorgen dafür, dass vieles in der physischen Welt effizienter wird», denn die digitale Vernetzung beseitigt Ineffizienten, «das Resultat sind Effizienzsteigerungen», alles wird gut.

Dank Google-Gratis-Internet trägt in der Grossstadt jeder sein Dorf mit sich herum.

Der «entscheidende Fortschritt», so schreiben Cohen und Schmidt, liege in der Personalisierung. «Wir werden in der Lage sein, unsere Umgebung unseren Wünschen anzupassen.» «Jedes beliebige Foto oder Video und jede geografische Kulisse» ständen auf Abruf bereit, liessen sich in «Holografie-Projektoren» einspeisen, so dass man sich jederzeit in einen privaten «Erinnerungsraum» zurückziehen könne. So trägt jeder sein Dorf mit sich herum. Mittendrin, unter all den Menschen im Zentrum von New York City, kann einer beim WiFi-Kiosk sich aus der Stadt ausklinken und heimkehren in sein Dorf.