Kommentar

Schweizer Milizsystem: Der Staat – das sind wir!

Das politische System der Eidgenossenschaft lebt vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Doch der Republikanismus wird zunehmend von einem Konsumismus abgelöst. Dadurch könnte verloren gehen, was die Schweiz im Kern ausmacht.

Marc Tribelhorn
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Arbeiten an der Schweiz wäre eine Aufgabe für uns alle. (Bild: Ennio Leanza / Keystone)

Arbeiten an der Schweiz wäre eine Aufgabe für uns alle. (Bild: Ennio Leanza / Keystone)

Zum 1. August wird es wieder besungen, das schweizerische Milizsystem. Neben der direkten Demokratie, dem Föderalismus und der Neutralität gehört es zu den Fixpunkten politischer Predigten. Für den Zürcher Intellektuellen, ETH-Professor und Generalstabsobersten Karl Schmid war das Milizprinzip schlicht das Wesensmerkmal des Landes. Emphatisch sprach er Anfang der 1970er Jahre von «dieser schweizerischen Unfähigkeit, vom Staat zu sagen, er habe für uns zu sorgen, wir aber nicht für ihn». Doch das ist lange her. Seit drei Jahrzehnten werden schon Degenerationserscheinungen konstatiert oder besser: beklagt. Denn auch heute noch bekennt sich ein Grossteil der Bevölkerung zum republikanischen Prinzip, dass Bürgerinnen und Bürger nicht nur wählen und abstimmen, sondern nebenbei auch öffentliche Ämter übernehmen sollen. Nur, engagieren wollen sich immer weniger. Die aktuellen Befunde sind so eindeutig wie ernüchternd.

Folklore im Bundeshaus

Zwar bekleiden weiterhin über 100 000 Personen in Gemeinden, Kantonen oder beim Bund politische Ämter. Aber heute bekunden zwei Drittel der 2222 Gemeinden grosse Schwierigkeiten, ihre Stellen in der Exekutive und in den Kommissionen zu besetzen. Jede fünfte Wahl in einen Gemeinderat erfolgt inzwischen still, also ohne Gegenkandidatur. Einige Kommunen müssen Behörden zusammenlegen, auf den Amtszwang setzen oder gar externe Sachwalter verpflichten. Auf lokaler Ebene fehlt es fast flächendeckend an Kandidaten, weil gesteigerte Ansprüche in Beruf und Freizeit das Engagement im Gemeinde- und Kantonsrat, in der Schul- oder Kirchenpflege hemmen. Kommt hinzu, dass die Mobilität in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen hat. Viele leben nicht mehr dort, wo sie aufgewachsen sind, entsprechend fehlt es ihnen an Identifikation mit der Wohngemeinde. Während die zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen der Nebenämter zugenommen hätten, habe überdies die Wertschätzung der Bevölkerung für ihren Einsatz abgenommen, klagen viele Milizionäre. Manch ein Gemeindepräsident vergleicht seine Funktion mit einer Strassenlaterne: «Du musst immer gerade stehen, oben leuchten, und unten darf dich jeder anpinkeln.»

Versuche, die Attraktivität zu steigern, etwa mit mehr Lohn, haben kaum Linderung gebracht, im Gegenteil: Der Versuch der Professionalisierung widerspricht ja gerade dem Grundgedanken des Milizsystems, wonach Laien ihre beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen ins Staatswesen einbringen. Dies zeigt sich besonders auf nationaler Ebene. Eine Studie der Universität Genf ergab letztes Jahr, dass Nationalräte durchschnittlich ein Pensum von 87 Prozent und Ständeräte eines von 71 Prozent für Tätigkeiten aufwenden, die in Zusammenhang mit ihrem politischen Mandat stehen. Der Politiker im Nebenamt ist unter der Bundeshauskuppel also mittlerweile eine Rarität, das vielgepriesene Milizparlament längst Folklore. Die Gründe dieser schleichenden Entwicklung zum Berufsparlament: Die Anzahl Geschäfte pro Legislatur hat sich in den letzten 30 Jahren verdreifacht, der Aufwand für die ständigen Kommissionen ist gestiegen, und die höheren Besoldungen ermöglichen ein gutes Auskommen.

Die Erosion des Milizsystems manifestiert sich auch in der geleisteten Freiwilligenarbeit, die vom Bundesamt für Statistik erfasst wird. So ist die Beteiligung an «institutionalisierter Freiwilligenarbeit», also dem ehrenamtlichen Engagement für Sportvereine, caritative Organisationen oder politische Parteien, seit 1997 um einen Viertel gesunken – auf nunmehr nicht einmal 20 Prozent der Bevölkerung. Die Anzahl der Führungskräfte aus der Wirtschaft, die Freiwilligenarbeit leisten, hat sich in den letzten 20 Jahren sogar mehr als halbiert. Das gleiche Bild zeigt sich bei der in der Verfassung verankerten allgemeinen Wehrpflicht für Schweizer Männer: Seit längerem kann die Armee nur mit Mühe genügend fähige Soldaten und Kader rekrutieren, auch wenn die Jungen gemäss einer ETH-Studie die Landesverteidigung für so notwendig halten wie noch nie seit dem Ende des Kalten Kriegs.

Kunden statt Bürger

In Zeiten der Individualisierung und Globalisierung zählt der Dienst an der Gemeinschaft offensichtlich immer weniger. Das ist kein Schweizer Spezifikum, bricht hierzulande aber mit einer besonderen Tradition und muss uns deshalb beunruhigen. Heute wird kaum mehr gefragt, was wir für den Staat tun können, sondern vielmehr, was er für uns tun kann. Selbstoptimierung und -verwirklichung haben in der Multioptionsgesellschaft den helvetischen Milizgedanken zurückgedrängt. Ein kühles Kosten-Nutzen-Kalkül und eine neue Anspruchsmentalität gegenüber dem Staat haben Einzug gehalten, besonders in den Städten. Das freiwillige Engagement für die Res publica ist überdies längst kein Karriere-Boost mehr. Viele Arbeitgeber, insbesondere jene internationalen Wirtschaftskapitäne ohne Bezug zum hiesigen Milizsystem, sehen vor allem die Absenzen ihrer Mitarbeitenden statt ihren Leistungsausweis und Mehrwert als Lokalpolitiker oder Offizier. Wer beruflich vorankommen will, halst sich also besser kein Nebenamt und keinen zusätzlichen Militärdienst auf.

Diese bedenkliche Tendenz erwähnte der damalige FDP-Bundesrat Kaspar Villiger schon in seiner 1.-August-Rede im Jahr 2000: Gegen einen vernünftigen Individualismus sei an sich nichts einzuwenden, referierte er. «Aber die zunehmende Tendenz vieler Menschen, vor allem für sich zu schauen und sich um das Gemeinwesen zu foutieren, ist Gift für eine Kultur der gelebten Solidarität. Zu viele stellen an den Staat nur Forderungen, sind aber nicht bereit, dem Staat auch etwas zu geben.» Villiger sprach sich damit für eine bürgerlich-republikanische Tugend aus, die in Bedrängnis geraten ist: Nach diesem Liberalismus-Verständnis sind wir frei, wenn wir ein gewichtiges Mitspracherecht bei der Gestaltung des Gemeinwesens und des Zusammenlebens ausüben und nicht bloss als Privatiers nach dem grösstmöglichen persönlichen Glück streben. Dieses Prinzip, dass sich möglichst viele um das Gemeinwesen kümmern, ist für die Schweiz essenziell. Oder wie es der Historiker und ehemalige Diplomat Paul Widmer einmal drastisch formulierte: «Die Schweiz lebt von der aktiven Mitarbeit der Bürger in Gemeinde, Kanton und Bund. Erlahmt diese, dann erlischt auch ein Staatswesen wie die Schweiz.»

Das Ende des Sonderfalls

Tatsächlich sind ohne diese maximale Bürgerbeteiligung im Milizsystem auch die direkte Demokratie und die Subsidiarität nur mit Abstrichen zu haben. Eine weitgehende Professionalisierung würde möglicherweise zu besseren Dienstleistungen führen, ganz sicher aber zu einer stärkeren Entfremdung zwischen Bürgern und «Classe politique», zu mehr behördlicher Bürokratie und damit zu einer wachsenden Staatsquote. Das feinmaschige Netz an Gemeinden, das vor Zentralisierungstendenzen schützt, liesse sich aus Kostengründen kaum aufrechterhalten. Die Schweiz mutierte damit unweigerlich vom weltweiten Sonderfall zum Normalfall, von einer Art Do-it-yourself-Bürgerstaat zu einer Zuschauerdemokratie.

Was tun? Das Lamento über das bröckelnde Milizsystem ertönt schon so lange, dass mit einer raschen Reform nicht zu rechnen ist. Die Gemeinden, die besonders unter dem Nachwuchsmangel leiden, versuchen bereits seit Jahren mit individuellen Anreizen, die Miliztätigkeit zu fördern, etwa mit höheren Entlöhnungen, administrativer Entlastung oder Weiterbildungsmöglichkeiten. Auch soll das Rekrutierungspotenzial künftig besser ausgeschöpft werden. Im Fokus sind besonders Junge, Frauen und Pensionierte, aber auch die Öffnung der kommunalen Ämter für niedergelassene Ausländer wird vermehrt diskutiert. Der Gemeindeverband hat für 2019 das «Jahr der Milizarbeit» ausgerufen. Ob damit das kränkelnde System revitalisiert werden kann, ist indes zu bezweifeln.

Radikaler und erfolgversprechender ist der Vorschlag, den der liberale Think-Tank Avenir Suisse 2015 lancierte: nämlich die Einführung eines «Bürgerdienstes für alle», der in der Armee, einem Schutzdienst oder zivilen Tätigkeiten wie im Altersheim oder in der Gemeindepolitik zu leisten wäre. Diese Idee zur Wiederbelebung des Milizsystems ist provokativ und löst etwa bezüglich Zwang, Finanzierung und Bürokratie auch Abwehrreflexe aus. Eine ernsthafte politische Debatte konnte Avenir Suisse so nicht entfachen. Das wäre vorderhand das Dringlichste: wieder einmal über den Wert zivilgesellschaftlichen Engagements und die Bedeutung des Milizsystems für die Schweiz nachzudenken und zu streiten. Denn dieses Bewusstsein ist uns abhandengekommen. Der Staat sind nicht die andern – der Staat sind wir.