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Chorea Huntington

Stilllegung eines Gens

Bei neurodegenerativen Erkrankungen gibt es bislang kaum wirksame Therapieoptionen. Erste klinische Studien haben jetzt bei der monogenetischen Erbkrankheit Chorea Huntington gute Ergebnisse gezeigt: Antisense-Oligonukleotide sollen das verantwortliche Gen stilllegen.
Christina Hohmann-Jeddi
12.04.2019  08:00 Uhr

»Wir befinden uns in spannenden Zeiten«, sagte Professor Dr. Bernhard Landwehrmeyer von der Neurologischen Universitätsklinik Ulm auf dem Deutschen Kongress für Parkinson und Bewegungsstörungen in Düsseldorf. Mehr als 20 Jahre nach der Entdeckung des krankheitsverursachenden Huntingtin (HTT)-Gens habe es nun erste klinische Studien mit Wirkstoffen gegeben, die an diesem ansetzen. Chorea Huntington habe gegenüber anderen neuro­degenerativen Erkrankungen den Vorteil, dass nur ein Gen eine Rolle spielt und man daher ein klares Target hat.

Chorea Huntington ist eine autosomal-dominant vererbte, zerstörerische Erkrankung. Wer eine Kopie des mutierten Gens geerbt hat, entwickelt die Erkrankung immer. Erste Anzeichen treten im mittleren Erwachsenenalter auf. Charakteristisch sind Bewegungsstörungen wie Hyperkinesien bei verringertem Muskeltonus, später kann es zu Bewegungsarmut bei erhöhtem Tonus kommen. »Huntington ist dabei mehr als eine Bewegungsstörung, es treten auch Persönlichkeitsveränderungen und kognitive Defizite auf«, sagte Landwehrmeyer. Die Krankheit führt innerhalb von etwa 15 Jahren zum Tod. Eine kausale Therapie gibt es bislang nicht.

Zugrunde liegt der Erkrankung ein Untergang von Neuronen, vor allem in den Basalganglien, die in Teilen für die Bewegungssteuerung verantwortlich sind. Die weiße Substanz insgesamt atrophiert stark. Je mehr Neurone zugrunde gehen, desto ausgeprägter ist die Symptomatik. Aber nicht nur das Gehirn ist betroffen, auch in anderen Organen wird das Huntingtin-Gen exprimiert. Welche Funktion das Huntingtin-Protein hat, ist noch nicht abschließend geklärt; es scheint bei der Regulation der Genexpression und der Gehirnentwicklung eine Rolle zu spielen.

»Das Huntingtin-Gen ist sehr groß«, berichtete Landwehrmeyer. In ihm ist eine Strecke von CAG-Repeats enthalten, die bei Gesunden etwa 16 bis 20 Tripletts umfasst und bei Patienten deutlich mehr. Die Anzahl der CAG-Wiederholungen bestimmt das Erkrankungsalter: Je mehr Replikationen vorhanden sind, desto früher treten die ersten Symptome auf. Die vermehrten CAG-Tripletts führen zu einer Konformationsänderung des zugehörigen Proteins. Die fehlgefalteten Proteine lagern sich bei Patienten zu amyloidähnlichen intrazellulären Plaques in Neuronen zusammen. Durch die Mutation sind aber nicht nur das Protein, sondern auch die anderen Genprodukte, nämlich die messenger-RNA (mRNA) und die prämessenger-RNA (prä-mRNA), verändert. »Alle tragen nach heutigem Kenntnisstand zur Pathophysiologie der Erkrankung bei«, sagte der Referent.

Zusätzlich zur Anzahl der CAG-Repeats spielen auch genetische Modifikatoren eine Rolle, die sich positiv oder negativ auswirken können. »Bestimmte Modifikatoren können die Erkrankung bis zu sechs Jahre früher ausbrechen lassen«, so Landwehr­meyer. Die entsprechenden Gene seien alle an der DNA-Reparatur beteiligt. Eventuell beeinflussen die Reparaturgene die Stabilität der Region mit den CAG-Replikationen. Die Anzahl der Wiederholungen ist nämlich zwischen den Generationen instabil und kann auch im Laufe des Lebens noch zunehmen, berichtete der Mediziner. Diese somatische Instabilität ist auf das Gehirn beschränkt. Hier können CAG-Regionen mit mehr als 700 Repeats auftreten. Die Instabilität hängt dabei nicht von Zellteilung, aber von DNA-Reparatur ab. Chorea Huntington scheint somit mehr eine durch DNA-Instabilität als durch Proteinopathie gekennzeichnete Erkrankung zu sein. Das könnte auch auf andere neuro­degenerative Erkrankungen wie myotone Dystrophie zutreffen.

Therapeutischer Ansatz am Gen

Daher setzt man therapeutisch auch nicht am Protein, sondern am HTT-Gen an. Dieses kann prinzipiell mithilfe der CRISPR/Cas-Methode oder mit Zinkfinger-Ansätzen ausgeschaltet werden. Es ganz auszuschalten, könnte aber negative Folgen für die Gehirnentwicklung haben. In der klinischen Erprobung befindet sich ein Ansatz mit selektiven Anti­sense-Oligonukleotiden (ASO). Dies sind kurzkettige, synthetische, einzelsträngige Nukleinsäuren, deren Sequenz komplementär zur Sequenz einer funktionalen mRNA ist. Sie können daher mit diesen zusammen einen Doppelstrang bilden. Die ASO lassen also das Gen intakt, fangen aber die prä-mRNA und mRNA ab und verhindern darüber die Bildung des fehlerhaften Proteins.

Die Pharmaunternehmen Roche und Ionis entwickelten den Wirkstoffkandidaten RG6042 (IONIS HTTRX), der selektiv die Produkte der schadhaften Genkopie abfängt, nicht aber die der intakten Genkopie bei heterozygoten Trägern. In einer Phase-I/IIa-Studie mit 46 Patienten erwies sich der Wirkstoff in allen getesteten Dosierungen als sicher und verträglich. Die intrathekale Injektion von RG6042 senkte die Konzentration des mutierten Huntingtin-Proteins (mHTT) dosisabhängig um 40 bis 60 Prozent, berichtete Landwehrmeyer. Nun solle geprüft werden, ob sich die Reduktion auch in einer Verbesserung des klinischen Bildes niederschlägt. »Die Daten aus Tierversuchen lassen das vermuten«, sagte der Mediziner.

Eine Phase-III-Studie, für die bis zu 660 Patienten mit Huntington-Symptomen rekrutiert werden sollen, soll dies klären. Der erste Patient wurde bereits Ende Januar behandelt, meldet Ionis. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse der Phase-I/IIa-Studie erteilte die Europäische Arzneimittelagentur dem Prüfmedikament Mitte 2018 den PRIME (Priority-Medicines)-Status zur Behandlung von Patienten mit Chorea Huntington.

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