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Anticholinerge Belastung

Erkennen, analysieren und minimieren

Antidepressiva, Spasmolytika und Medikamente gegen Morbus Parkinson sind bekannte Anti­cholinergika. Doch welche Arzneimittel wirken außerdem anticholinerg? Warum ist dies wichtig für die Beratung in der öffentlichen Apotheke, und welche Besonderheiten gilt es zu beachten?
Esther Kiesel
Yvonne Pudritz
10.02.2019  08:00 Uhr

Die ältere Kundin Frau Meier klagt im Beratungsgespräch über Schmerzen im Mund und darüber, dass sie diese trotz diverser Hausmittel und auch Empfehlungen ihrer Ärzte nicht in den Griff ­bekommt. Sie fragt, ob die Apotheke nicht noch eine Idee zur Verbesserung ihrer Beschwerden habe.

Eine weitere Patientin ist die 23-jährige Frau Krug, die mit Sehproblemen in die Apotheke kommt. Im Gespräch fällt auf, dass ihre Pupillen ungewöhnlich groß sind. Frau Krug erzählt, dass sie erst gestern von einer Kreuzfahrt zurückgekommen sei.

Herr Schulze wiederum ist ein 88-jähriger, schon lange bekannter Stammkunde. Seine Frau berichtet in der Apotheke, dass er in den letzten Wochen immer verwirrter und desorientierter geworden sei. Sie weiß nicht, ob sie mit ihm alleine daheim wohnen bleiben kann, und ist verzweifelt, weil es so plötzlich mit ihrem Mann bergab ging (Fallbeispiele nach Lit. 1-3).

Im Folgenden werden diese Patientenbeispiele genauer betrachtet und die Hintergründe zu anticholinergen Arzneimitteln erläutert.

Pharmakologie der ­Anticholinergika

Arzneistoffe mit einem anticholinergen Wirkprinzip sind bei Morbus Parkinson, Krampfleiden, Depressionen und anderen Erkrankungen pharmakologisch wirksam. Daneben gibt es zahlreiche weitere Medikamente, die ohne primär anticholinerges Wirkprinzip auf Neurotransmitterebene wirksam sind und dadurch anticholinerge Nebenwirkungen hervorrufen können. Insgesamt sollen mehr als 600 Arzneistoffe anticholinerge Wirkungen haben (4).

Acetylcholin als zentraler und peripherer Botenstoff des Körpers hat zahlreiche physiologische Wirkungen im Körper, die je nach Erkrankung und ­Medikament erwünscht, aber auch unerwünscht sein können. Acetylcholin wird in Vesikeln in Nervenendigungen gespeichert. Nach Aktivierung des betreffenden Neurons wird Acetylcholin freigesetzt und bindet dann sowohl an muskarinische (Subtypen M1 bis M5) als auch an nikotinische Rezeptoren (5, 6). Es kommt zu einem raschen Abbau durch die spezifische Acetylcholinesterase sowie die unspezifische Pseudocholinesterase.

Nikotinische Rezeptoren sind Liganden-gesteuerte Ionenkanäle. Diese finden sich vor allem in Neuronen des Zentralnervensystems (ZNS) und von Ganglien sowie an der neuromuskulären Endplatte (5, 6).

Muskarinische Rezeptoren sind dagegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, die sich in fünf Subtypen untergliedern. M1-Rezeptoren finden sich vor allem in neuronalen Strukturen (ZNS, Ganglien) und regulieren die Neurotransmission, M2-Rezeptoren be­sonders am Herzen (Erniedrigung der Herzfrequenz) und M3-Rezeptoren an der glatten Muskulatur (Kontraktion) und an exokrinen Drüsen (Sekretion). M4-Rezeptoren sind vorwiegend im Vorderhirn, Hippocampus und Striatum lokalisiert. Sie sind am Schmerzgeschehen beteiligt; ihre weitere physiologische Funktion ist noch nicht eindeutig geklärt. Auch M5-Rezeptoren kommen vor allem im ZNS vor. Sie sind vermutlich für die Vasodilatation zerebraler Arteriolen und die Dop­amin-Freisetzung im Striatum von Bedeu­tung (5, 6).

Die meisten anticholinergen Medikamente binden unselektiv an alle Rezeptoren. Nur speziell entwickelte Urologika wie Darifenacin und Solifenacin sind (relativ) selektive M3-Acetylcholin-Rezeptorantagonisten (6). In Tabelle 1 sind die wichtigsten Effekte von anticholinergen Substanzen auf verschiedene Organsysteme dargestellt.

Organsystem Ausprägung der Symptome
leicht mittel schwer
Mund-Rachen-Raum Mundtrockenheit störende Mundtrockenheit, Probleme beim Sprechen, reduzierter Appetit Schwierigkeiten beim Kauen, Schlucken, Sprechen, Mukosaschädigung, Zahn- und Zahnfleischerkrankungen, Unterernährung
Auge leichte Sehstörungen durch Pupillendilatation, Lichtempfindlichkeit, trockenes Auge Akkomodationsstörungen, deutliche Sehstörungen erhöhtes Sturzrisiko, Glaukomanfall, vor allem bei bestehendem Engwinkelglaukom
Magen-Darm-Trakt verminderte Peristaltik und Sekretion im Magen-Darm-Trakt, Magenentleerung verlangsamt, Obstipation schwere Obstipation, Ileus, veränderte Absorption von Arzneistoffen
Harnwege Miktionsstörung Harnverhalt, Harnwegsinfekt (als Folge)
Herz erhöhte Herzfrequenz Überleitungsstörungen, Tachyarrhythmien, Herzinsuffizienz, Angina-Pectoris-Anfall
Haut vermindertes Schwitzen Hauttrockenheit gestörte Thermoregulation bis hin zur Hyperthermie
ZNS Benommenheit, Schwäche, leichte Amnesie, Konzentrationsschwierigkeiten Erregung, Unruhe, Verwirrtheit, Gedächtnisstörungen schwere Unruhe, Desorientiertheit, Agitation, Halluzinationen, Delirium, Muskelzuckungen, Hyperreflexie, Krampfanfälle, starke kognitive Einschränkungen, zentrales anticholinerges Syndrom

Obwohl anticholinerge Wirkungen alle Patienten betreffen, sind gerade ältere Menschen besonders betroffen, da sie empfindlicher für anticholinerge Nebenwirkungen sind als Jüngere (8, 9). Neben einer altersabhängigen Reduktion der cholinergen Übertragung werden die entsprechenden ­Medikamente bei verringerter metabolischer Kapazität und langsamerer Elimination auch langsamer ausgeschieden (8, 9). Zudem wird die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger im Alter, sodass es zu höheren Arzneimittelkonzentrationen im zentralen Nervensystem kommen kann (10).

Vor allem zentrale Nebenwirkungen wie Sehstörungen, Verwirrtheit und Tremor können das Sturzrisiko erhöhen (8). Andere schwerwiegende Nebenwirkungen sind Tachyarrhythmien, Halluzinationen, kognitive Einschränkungen und Delir (8). Weitere Nebenwirkungen wie trockener Mund, Verstopfung und Harnretention sind klinisch meist nicht so gravierend, können aber die Lebensqualität des einzelnen Patienten deutlich beeinträchtigen (8). Verschiedene Studien deuten auf ein erhöhtes Risiko für Stürze, kognitive Verschlechterung und Delir bei einer erhöhten anticholinergen Last älterer Patienten hin (11-15).

Erfassung der anticholinergen Belastung

Unter anticholinerger Belastung versteht man die Summe der anticholinergen Aktivität aller Medikamente eines Patienten. In die Betrachtung fließt meist die Zahl der Arzneimittel, aber auch die Stärke der anticholinergen ­Aktivität der einzelnen Wirkstoffe ein.

Die anticholinerge Belastung von Patienten kann auf verschiedene Arten ermittelt werden. Die gebräuchlichste Variante ist die Einteilung von Arzneistoffen in Kategorien mit keiner, leichter, mittlerer und starker anticholinerger Belastung, die mit 0 bis 3 Punkten bewertet werden (Tabelle 2). Wird nun die anticholinerge Belastung eines Patienten berechnet, werden die Punktwerte (Scores) der einzelnen Arzneistoffe addiert, um den Gesamtscore des Patienten zu erhalten.

Die meisten Studien folgen dem Vorschlag von Boustani und Mitarbeitern, ab einem Score von 3 oder größer nach Alternativen mit geringerer anticholinerger Belastung zu suchen (13). Ist eine Umstellung auf andere Arzneimittel nicht möglich, wird empfohlen, eine Dosisreduktion zu erwägen und den Patienten auf anticholinerge Nebenwirkungen zu überwachen.

ACB-Score 1 ACB-Score 2 ACB-Score 3
Aclidinium (inh), Alprazolam, Ampicillin, Aripiprazol, Asenapin, Atenolol, Azathioprin, Baclofen, Benazepril, Betaxolol, Bisacodyl, Bromocriptin, Bupropion, Captopril, Celecoxib, Cetirizin, Chlordiazepoxid, Chlorthalidon, Ciclosporin, Citalopram, Clindamycin, Clonazepam, Clorazepat, Codein, Desloratadin, Dexamethason, Dextromethorphan, Diazepam, Digitoxin, Digoxin, Diltiazem, Dimetinden, Dipyridamol, Domperidon, Doxylamin, Entacapon, Escitalopram, Etoricoxib, Famotidin, Fentanyl, Fexofenadin, Flunitrazepam, Fluoxetin, Fluphenazin, Flurazepam, Fluvoxamin, Furosemid, Gentamicin, Glycopyrronium (inh), Guaifenesin, Hydralazin, Hydrocortison, Ipratropium (inh), Isosorbiddinitrat, Isosorbidmononitrat, Ketorolac, Lansoprazol, Levocetirizin, Levodopa, Lithium, Loratadin, Lorazepam, Metformin, Methocarbamol, Methotrexat, Methylprednisolon, Metoclopramid, Metoprolol, Midazolam, Mirtazapin, Morphin, Naratriptan, Nifedipin, Oxazepam, Oxycodon, Paliperidon, Pancuronium, Perphenazin, Phenobarbital, Piperacillin, Pramipexol, Prednisolon, Prednison, Promethazin, Pseudoephedrin, Quinidin, Risperidon, Rotigotin (Pflaster), Selegilin, Sertralin, Sumatriptan, Temazepam, Tiotropium (inh), Trandolapril, Trazodon, Triamcinolon, Triamteren, Triazolam, Valproat, Vancomycin, Venlafaxin, Warfarin, Ziprasidon, Zolmitriptan Amantadin, Carbamazepin, Cimetidin, Haloperidol, Loperamid, Loxapin, Maprotilin, Methadon, Olanzapin, Opipramol, Oxcarbazepin, Paroxetin, Pethidin, Pimozid, Quetiapin, Ranitidin, Theophyllin, Tramadol Amitriptylin, Atropin, Chlorpheniramin, Clemastin, Clomipramin, Clozapin, Cyproheptadin, Darifenacin, Dimenhydrinat, Diphenhydramin, Doxepin, Fesoterodin, Flavoxat, Hydroxyzin, Imipramin, Levomepromazin, Nortriptylin, Orphenadrin, Oxybutynin, Procyclidin, Propiverin, Scopolamin, Solifenacin, Thioridazin, Tizanidin, Tolterodin, Trihexyphenidyl, Trimipramin, Trospium

Die Einteilung in Kategorien vernachlässigt wichtige Faktoren wie die eingenommene Dosis und die Einnahmehäufigkeit. Eine Methode, die die eingenommene Dosierung berücksichtigt, ist der »Drug burden index« (DBI) (16). Zur Berechnung des DBI wird neben den eingenommenen Medikamenten inklusive Dosierung (D) die zugelassene Tagesminimaldosis (δ) benötigt. Berechnet wird der DBI eines anticholinergen Medikaments nach folgender Formel:

B = D ÷ (δ+D)

Hierdurch ergibt sich für jedes anti­cholinerge Medikament ein Wert von 0,5 bis 1 im zugelassenen Dosierungs­bereich beziehungsweise 0 bis 0,5, falls die zugelassene Minimaldosierung unter­schritten wird. Um den Gesamt-DBI zu errechnen, werden die Werte der einzelnen Medikamente addiert. Leider gibt es bislang keinen (publizierten) Grenzwert, ab dem die Medikation überprüft und eventuell umgestellt werden soll. Die Anwendung des DBI erfordert im Vergleich zur Einteilung in Kategorien mehr Informationen und einen höheren Rechenaufwand.

Zurück zu den Patientenbeispielen

Kommen wir nun zurück zu den eingangs erwähnten Patienten in der ­Offizin.

Fall 1: Schmerzen im Mund

Die Apothekerin fragt Frau Maier nach ihrer aktuellen Medikation und erfährt, dass sie unter anderem Oxybutynin und Diphenhydramin einnimmt (Tabelle 3). Diphenhydramin hat der Hautarzt verordnet, den sie in der Vorwoche wegen des schmerzhaften Mundes konsultiert hat. Seit sie dies zusätzlich einnimmt, seien die Beschwerden aber eher schlechter geworden. Ein Blick in den Mund der Kundin zeigt, dass die Zunge sehr trocken aussieht. Frau Meyer bestätigt, neben den Schmerzen einen sehr trockenen Mund zu haben und täglich bis zu drei Liter Wasser zu trinken.

Die Apothekerin klärt die Patientin darüber auf, dass die anticholinergen Nebenwirkungen von Oxybutynin und Diphenhydramin ursächlich sein könnten für die Trockenheit und Schmerzen im Mund. Nach Rücksprache mit dem Hausarzt setzt Frau Maier beide Medikamente ab und berichtet nach einigen Wochen, dass ihre Beschwerden komplett zurückgegangen seien.

Trockener Mund ist die häufigste periphere Nebenwirkung anticholinerger Medikamente und kann die Lebensqualität, unter anderem durch Einschränkungen beim Sprechen, Probleme bei der Nahrungsaufnahme und mit Zahnprothesen, erheblich beeinträchtigen (18).

Da Oxybutynin wegen Dranginkontinenz angesetzt worden war, ist nun eine Nutzen-Risiko-Abwägung von Frau Maier und ihrem Arzt nötig, wie weiter vorgegangen werden soll. Auch wenn alle spasmolytischen Urologika mit starker anticholinerger Wirkung eingestuft werden (Tabelle 2), können spezifischere Wirkstoffe wie Solifenacin und Darifenacin und quartäre Ammoniumverbindungen wie Trospiumchlorid nebenwirkungsärmer sein.

Insgesamt sollte bei allen Urologika bei Therapiebeginn die Wirkung eng überwacht werden; zum Beispiel zeigt ein Toilettenprotokoll, wie oft die Patientin Harndrang hat und zur Toilette geht  (19). Nur bei Besserung der Sym­ptome ist eine Weiterführung der Medikation sinnvoll. Eine nicht-pharmakologische Alternative ist Toilettentraining und/oder die Verwendung von Inkontinenz­einlagen (6).

Fall 2: Sehstörungen

Frau Krug nimmt außer oraler Kontrazeption keine Arzneimittel dauerhaft ein. Auch in den letzten Tagen hat sie bedarfsmäßig nichts eingenommen. Auf genaueres Nachfragen nach weiteren Arzneiformen wie Augentropfen, Salben oder Pflaster erfährt der Apotheker, dass sie auf dem Schiff ein Scopolamin-Pflaster gegen Reiseübelkeit bekommen hat. Am Vortag hatte sie das Pflaster für den letzten Seetag noch mal gewechselt und es dann vergessen. Außerdem kann sie nicht ausschließen, dass sie nach dem Aufkleben des Pflasters mit den Fingern noch an die Augen gekommen ist. Der Apotheker rät Frau Krug, das Pflaster noch in der Apotheke abzunehmen. Am nächsten Tag berichtet sie, dass die Sehbeschwerden vollkommen rückläufig waren.

Die versehentliche Übertragung von Scopolamin auf das Auge hat vermutlich die lokale anticholinerge Wirkung am Auge hervorgerufen. Jedoch können auch systemisch eingenommene anticholinerge Arzneimittel Nebenwirkungen am Auge hervorrufen. Hier sind vor allem Pupillenerweiterung, trockene Augen, verschwommene Sicht und erhöhter Augeninnendruck zu nennen (8).

Bei Patienten mit Engwinkelglaukom kann die Pupillenerweiterung durch Anticholinergika sogar bis zum akuten Glaukomanfall führen. Daher sind unbehandelte Engwinkelglaukome eine Kontraindikation für die Anwendung von Anticholinergika (20). Während die häufigere Form des Offenwinkelglaukoms unproblematisch sein sollte, ist gerade bei Patienten mit Engwinkelglaukom oder früherem Glaukomanfall eine Rücksprache mit dem Augenarzt vor der Anwendung von anticholinergen Arzneimitteln ­notwendig (20).

Fall 3: zunehmende Verwirrung

Frau Schulze erzählt, dass sie mit ihrem Mann, der an Alzheimer-Demenz leidet, vor zwei Wochen beim Psychiater war. Dieser habe eine Depression ­dia­gnostiziert und verschiedene Medikamente verordnet (Tabelle 3). Jetzt musste sie am Morgen den Notarzt ­rufen, da ihr Mann in der Nacht verwirrter war als sonst, gleichzeitig auch Halluzinationen hatte und die ganze Nacht im Haus aktiv war und nicht schlafen konnte. Der Rettungsdienst habe ihren Mann ins Krankenhaus ­mitgenommen; dort sei er aufgrund ­eines Delirs auf die Intensivstation ­gekommen.

Medikation ACB-Score Anmerkungen
Beispiel 1: Frau Maier, 83 Jahre (nach (3))
Bisopolol -
Acetylsalicylsäure -
Simvastatin -
Oxybutynin 3 wegen Dranginkontinenz angesetzt, Nutzen-Risiko abwägen
Diphenhydramin 3 Verschreibungskaskade, da vom Hausarzt aufgrund der Schmerzen im Mund verordnet
Beispiel 2: Frau Krug (nach (2))
Scopolamin-Pflaster 3 nach Applikation des Pflasters nicht an Schleimhäute oder Augen fassen
Beispiel 3: Herr Schulze (nach (1))
Haloperidol 2 nicht zur Behandlung der Depression indiziert, bei Demenz-assoziierten Symptomen wie Unruhe, Halluzinationen, Agitiertheit: Risperidon (ACB 2) oder Melperon (ACB 1) laut FORTA-Liste geeigneter (21)
Orphenadrin 3 Indikation für Muskelrelaxanzien ist eng zu stellen (Sturzgefahr), nur kurzzeitige Anwendung
Amitriptylin 3 Antidepressiva mit geringerer anticholinerger Belastung auswählen, zum ­Beispiel SSRI (Citalopram, Escitalopram, Sertralin) oder Mirtazapin
Lorazepam 1 nächtliche Sedierung und Hang-over: erhöhtes Sturzrisiko

Glücklicherweise kann der Apotheker Frau Schulze beruhigen, dass ein Delir zwar ein akuter lebensbedrohlicher Notfall ist, die Symptome durch Beseitigung der Ursachen – hier vermutlich unter anderem die anticholinerge Medikation – aber in den meisten Fällen rückläufig sind. Typischer Unterschied: Wenn sich eine Demenz weiter verschlechtert, geschieht dies nicht so plötzlich und sprunghaft wie beim ­Delir, sondern eher langsam und schleichend.

Nach ein paar Tagen kommt Frau Schulze nochmals vorbei und berichtet, dass ihr Mann inzwischen von der Intensivstation auf Normalstation verlegt wurde und es ihm viel besser gehe. Die neu angesetzte Medikation des Psychiaters wurde gestoppt und der Patient auf das Antidepressivum Mir­tazapin sowie ein Antidementivum (Donepezil) eingestellt.

Risikopatienten in der ­Offizin

Wie kann dieses Wissen nun in der täglichen Beratungspraxis angewendet werden? Im letzten Teil dieses Beitrags werden neben Risikopatienten auch ­Alternativen für die Medikation und anticholinerge OTC-Arzneimittel vorgestellt.

Aufgrund von physiologischen Veränderungen im Alter sind besonders geriatrische Patienten von anticholinergen Nebenwirkungen betroffen. Zudem sind viele dieser Nebenwirkungen wie Verwirrtheit, erhöhte Sturz­gefahr und Sehprobleme für diese ­Patientengruppe besonders gefährlich. Gleichzeitig werden die Symptome oft als natürliche Alterserscheinung ab­getan und problematische Arznei­mittelwirkungen daher übersehen.

Achtung bei diesen Fokus auf
Risikopatienten geriatrische Patienten, Patienten, die bereits unter Symptomen leiden, die anticholinerg hervorgerufen/verstärkt werden können
Beschwerden trockener Mund, trockene Augen, Stürze, Verwirrtheit, Delir, Sehprobleme, vor allem in Kombination ­mit Pupillendilatation, Harnverhalt, viele weitere: siehe Tabelle 1
Medikamenten trizyklische Antidepressiva, zum Beispiel Amitriptylin und Trimipramin, Antipsychotika, H1-Antihistaminika, anticholinerge Urologika, Butylscopolamin, viele weitere: siehe Tabelle 2

Neben der Risikogruppe der geriatrischen Patienten sollten generell alle Patienten, die bereits von Nebenwirkungen betroffen sind, die anticholinerg hervorgerufen werden können, als Risikopatienten gelten (Tabelle 4). Dies sind beispielsweise:

  • Patienten, die wegen einer Chemotherapie bereits Probleme mit den oralen Schleimhäuten haben, die durch Mundtrockenheit verschlechtert werden kann;
  • Patienten, die bereits durch Parkinson oder andere Erkrankungen sturzgefährdet sind, oder
  • Patienten mit Konzentrations- und Gedächtnisproblemen.

Nicht immer ist es möglich, anticholinerg wirksame Arzneimittel um- oder abzusetzen. Gerade bei psychiatrischen Erkrankungen sind die Patienten teils langwierig auf die passende Medika­tion eingestellt worden, sodass eine Änderung langwierig ist und nur beim Spezialisten erfolgen kann. In diesen Fällen wird man sich oft auf die Beobachtung von potenziellen Nebenwirkungen beschränken.

Allerdings gibt es bei vielen Indika­tionen auch gute Alternativen, die eine geringere anticholinerge Belastung mit sich bringen. So können bei Depressionen selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Citalopram, Escitalopram oder Sertralin, aber auch die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Duloxetin und Venlafaxin oder das Antidepressivum Mirtazapin eingesetzt werden (6). Auch bei Schlafproblemen oder neuropathischen Schmerzen, für die anti­cholinerg wirksame trizyklische Anti­depressiva eingesetzt werden, gibt es ­Alternativen. Mirtazapin wirkt in geringen Dosierungen schlafanstoßend. Bei neuropathischen Schmerzen sind Pregabalin und Gabapentin, topisches ­Capsaicin oder Lidocain Optionen mit geringerer anticholinerger ­Belastung (6).

Inhalative Arzneimittel dürfen bei der Betrachtung von anticholinergen ­Wirkungen nicht vergessen werden (Tabelle 2). Obwohl inhalative Anti­cholinergika wie Tiotropiumbromid, Ipratropiumbromid, Aclidiniumbromid und Glycopyrroniumbromid idealerweise nur lokal wirken, kann es auch hier zu systemischen Nebenwirkungen wie Tachykardien kommen (22). Noch häufiger sind lokale Neben­wirkungen wie trockener Mund bei der regelmäßigen Inhalation von anti­cholinergen Arzneistoffen.

Anwendung in der Offizin: OTC-Arzneimittel

Bei der spezifischen Betrachtung der Medikation hinsichtlich ihrer anticholinergen Belastung ist es wichtig, auch OTC-Arzneimittel im Blick zu haben. Bei typischen Symptomen sollte das Apothekenpersonal die Patienten auf eine potenzielle Arzneimittelnebenwirkung aufmerksam machen.

Die gebräuchlichsten anticholinergen OTC-Arzneimittel sind sicherlich H1-Antihistaminika, die zum Schlafen und bei Übelkeit angewendet werden (Tabelle 4). Auch wenn diese Arzneimittel in vielerlei Hinsicht harmloser sind als ihre verschreibungspflichtigen Partner Benzodiazepine und Z-Substanzen, darf die anticholinerge Belastung und damit die Gefahr für Nebenwirkungen nicht vernachlässigt werden.

Ein weiteres anticholinerg wirksames OTC-Arzneimittel ist Butylscopol­amin. Aufgrund der quartären Ammo­niumstruktur sind zentrale Wirkungen vermutlich vernachlässigbar, jedoch kann es in Kombination mit anderen Arzneimitteln periphere anticholinerge Nebenwirkungen verstärken.

Zusammenfassung

Anticholinerge Arzneimittel können neben der erwünschten Wirkung bei verschiedenen Krankheiten auch vielfältige Nebenwirkungen auslösen. Diese reichen von belastenden, aber eher harmlosen Begleitsymptomen bis hin zu schweren lebensbedrohlichen Zuständen, zum Beispiel einem Delir.

Zahlreiche Medikamente, die kein primär anticholinerges Wirkprinzip ­haben, können anticholinerge Nebenwirkungen hervorrufen. Dazu ge­hören auch OTC-Medikamente. Die anti­cholinerge Belastung wird durch die Summe der einzelnen Medikamente errechnet und gibt einen Hinweis auf das Ausmaß der anticholinergen Effekte beim individuellen Patienten.

Apotheker und Ärzte sollten sowohl Risikopatienten als auch -arzneimittel kritisch beobachten und – falls nötig und möglich – nach Alternativen suchen. Insgesamt darf die anticholinerge Belastung in der Beratung und bei Medikationsanalyse und -management nicht vernachlässigt werden.

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