Wenn irgendwann der Tag kommt, dann wird für alles gesorgt sein. Wenn die Kräfte der Eltern nachlassen, wenn ihnen die alltäglichen Dinge des Lebens nicht mehr gelingen, dann wissen die Kinder, was zu tun ist. Wann sie eingreifen dürfen. Und auch, was passiert, wenn einer der beiden, Margot und Walter Bossel aus Hamburg, pflegebedürftig wird. Sie ist 85, er 89. "Meine Mutter möchte nicht ins Heim", sagt Tochter Christiane Bossel-Schwenck, 55. "Sie weiß aber auch, dass ich sie nur bis zu einem gewissen Grad pflegen werde. Ich will nicht in diese permanente Überlastung von Pflegenden kommen. Das hat meine Mutter akzeptiert. Für mich eine große emotionale Entlastung." Margot Bossel nickt. Sie scheint ganz mit sich und dieser Entscheidung im Reinen. Bei den Bossels sind es vor allem Mutter und Tochter, die seit Jahren im Gespräch sind über die letzten Dinge des Lebens.
"Vor längerer Zeit starb eine Freundin meiner Mutter, und da erzählte sie mir von der Beerdigung. Ich konnte ganz leicht einhaken und sie nach ihren eigenen Gedanken zum Lebensende fragen", sagt Christiane Bossel-Schwenck. So begann zwischen den beiden ein ständig fortgeführter Dialog. Sie besuchten sogar gemeinsam ein Beerdigungsunternehmen. "Danach war meine Mutter gelöst", erzählt die Tochter. "Mein Bruder und ich wissen seitdem, wie sie sterben will: nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause, wo sich Familie und Freunde in aller Ruhe von ihr verabschieden können." Sie kennen die Lieder, die auf der Beerdigung gespielt werden sollen, und die Lieblingsblumen, die auf dem Urnengrab stehen werden.
Wenn irgendwann der Tag kommt, dann ist alles besprochen.
Der richtige Zeitpunkt
Es ist außergewöhnlich, dass Eltern und Kinder so offen und respektvoll über den letzten gemeinsamen Weg sprechen können. In den meisten Familien herrscht große Sprachlosigkeit, wenn es um das Altwerden, das Schwächerwerden, das Nicht-mehr-Können der Eltern geht. Erwachsene Kinder fragen sich verzweifelt: Wann ist der Zeitpunkt, diese Themen anzusprechen? Wie finden wir die richtigen Worte für Verfall, für Unvermögen und manchmal auch Unvernunft? Und wie soll man bloß geduldig bleiben, wenn die Eltern beharrlich jede Veränderung ablehnen?
Herr Marburg ist 88, kann kaum noch sehen – und fährt trotzdem noch Auto. Frau Herzog, 79, trägt zigtausend Euro zu einer Wahrsagerin – verbietet ihren Kindern aber jede Einmischung. Herr Diekmann, 82, kommt seit einem Unfall kaum noch die Treppe hoch – lehnt aber jede Hilfe ab. Und Frau Meckelburg, 73, dämmert nach einem Schlaganfall so dahin – ohne dass die Angehörigen sich je darüber ausgetauscht hätten, was in einem solchen Fall zu tun sei.
Das Internet ist voll von Hilferufen überforderter Angehöriger. Schon die Überschriften in den einschlägigen Foren erzählen von kleinen und großen Dramen: "Was tun mit sturer Tante?" – "Vater lehnt Hilfe ab" – "Wie kann ich eine Seniorin zum Wassertrinken bewegen?"
So sag ich's meinen Eltern: 10 Tipps zur Gesprächsführung
Über die eigenen Eltern nachdenken heißt über die eigene Familie nachdenken. Da Sie ein Teil davon sind, sollten Sie das voller Wohlwollen tun: Was ist wichtig in Ihrer Familie? Worauf sind Sie stolz? Was macht Sie zufrieden? Das Eigenheim? Auto und Mobilität? Schuldenfreiheit? Reisen? Körperliche und geistige Fitness? Nun versetzen Sie sich in Ihre Eltern: Welche Werte fürchtet Ihr Vater oder Ihre Mutter im Alter zu verlieren? Wie hoch ist das Risiko? Und muss das wirklich so sein?
Dieser und die 9 weiteren Tipps gibt Prof. Katja Werheid, Humboldt-Universität Berlin
Die Kräfte Ihrer Eltern werden weniger und gehen irgendwann zur Neige. Das ist traurig für alle Beteiligten, aber wenig hilfreich für den Einstieg in ein Gespräch. Große Themen wie Sterben und Erben sollten Sie zunächst zurückstellen – das weckt bei allen nur Ängste, besonders wenn schon Krankheiten oder Konflikte bestehen. Das beste Mittel gegen Trauer und Angst sind tröstliche und Sicherheit gebende Erfahrungen. Wenn es also darum geht, dass Ihre Eltern den Haushalt nicht mehr allein bewältigen können, dann suchen Sie erst mal eine konkrete Lösung für das konkrete Problem. Sprechen Sie zunächst nur über dieses eine Thema, um positive Erfahrungen zu ermöglichen: Es kann den Eltern zum Beispiel jemand im
Haushalt helfen, ohne dass dies automatisch der erste Schritt ins Altenheim sein muss.
Sie haben sich monatelang zu Hause nicht mehr blicken lassen? Wollen aber mal schnell ein paar Dinge klären? Am besten am Rande einer für die Eltern aufregenden Familienfeier? So läuft das nicht. Wer überfallen wird, geht entweder zur Flucht oder zum Gegenangriff über, bevor das Gehörte das Großhirn überhaupt erreicht. So würden Sie sich auch verhalten. Fallen Sie nicht bei erstbester Gelegenheit mit der Tür ins Haus. Wenn Sie ein Thema ansprechen wollen, sollten Sie sich erst mal um einen einigermaßen stabilen Kontakt zu Ihren Eltern bemühen. Und wissen, bei welcher Gelegenheit man Dinge am besten ansprechen kann. In vielen Familien gibt es traditionelle „Gesprächssituationen“, bei denen man ins Reden kommt: zum Beispiel in der Küche beim Abtrocknen oder beim Waldspaziergang. Führen Sie diese Tradition fort.
Wenn Sie mit Ihren Eltern ein heißes Eisen anpacken wollen, ist das zunächst mal Ihr eigenes Anliegen. Sie möchten Ihrer Verantwortung als erwachsenes Familienmitglied gerecht werden. Also: Sprechen Sie von sich selbst, statt Rezepte für andere zu verteilen. Ein Satz wie "Du Papa, ich mache mir viele Gedanken darüber, wie ich alt werden möchte" öffnet für ein Gespräch sicherlich eher Türen als fertige Ideen wie "Wenn du den Führerschein abgibst, fährst du eben mit dem Bus".
Sie machen sich Sorgen, weil Sie bei Ihren Eltern Veränderungen beobachtet haben. Vielleicht haben Sie daraus für sich selbst schon Schlussfolgerungen gezogen. Unabhängig davon, ob diese von den Eltern geteilt werden, sinnvoll oder realistisch sind: Gute Gespräche beginnen selten mit einem Fazit. Besser ist es, Ihre eigenen Beobachtungen auszusprechen. Konkrete Beispiele helfen: "Mama, ich habe bemerkt, dass du, wenn wir mit allen zusammen sind, abwesend wirkst." Statt Antworten im Kopf zu haben, sollten wir Fragen stellen: "Woran liegt das?"
Viele Jahre lang haben sich Ihre Eltern um Sie gesorgt, Sie beobachtet und beraten. Nun plötzlich "erwachsenes Kind" zu sein, ist erst mal ungewohnt für beide Seiten. Es lohnt sich, mit beiden Rollen zu spielen, indem Sie in die neue Rolle schlüpfen, aber der alten Rolle humorvoll Respekt zollen: Wenn Ihnen Ihre Mutter versichert, Sie mögen sich bitte keine Sorgen um sie machen, dann gibt es zwei Möglichkeiten – sie kehren in die Trotzphase zurück („Gut, dann eben nicht!“), oder Sie nehmen die Sache mit Humor: "Oje, Mama, 'Mach dir keine Sorgen' hab ich dir früher bei meinen Mofa-Touren auch immer gesagt. Und hat’s geholfen? Natürlich nicht!“
Mehr als die Hälfte des Plans ist geschafft, eine förderliche Haltung, eine günstige Gesprächssituation und angemessene Formulierungen gefunden. Und nun volle Kraft voraus? Bloß nicht! Gute Gespräche wirken weiter in den Pausen und Zwischenräumen. Und so kann es Ihnen passieren, dass der gerade begonnene Dialog mit den Eltern erst beim nächsten oder übernächsten Gespräch weitergeht. Veränderungen brauchen Zeit, besonders wenn wir schon lange mit dem Status quo leben.
Über heiße Eisen reden wir seltsamerweise lieber mit Unbeteiligten als mit denen, die uns und den Eltern am nächsten stehen. Der Geruch des „Verrats“ haftet denen an, die ihre Sorge um die Eltern mit Fremden teilen. So muss es aber nicht sein. Ein gutes Gespräch mit Bruder,
Schwester oder dem guten Freund der Familie kann sehr hilfreich sein, vorausgesetzt, Sie haben Ihre eigene Haltung geklärt. Wir erfahren dabei, was die anderen beobachtet haben, ob sie sich ebenfalls Sorgen machen und ob sie bereits das Gespräch gesucht haben. Und wir können herausfinden, wer das Eisen am besten anfassen kann: die Schwester, weil sie Vaters Lieblingstochter ist? Der Bruder, der mit Mutti besonders gut kann? Oder Muttis beste alte Freundin? Es macht wenig Sinn, die Eltern von allen Seiten zu bestürmen. Ein Satz wie "Wir sind alle der Meinung, dass …" ist kein Argument, sondern treibt den anderen in die Enge.
Gerade wenn Sie meinen, die Lösung zu kennen, treten Sie am besten einen Schritt zurück. Ihre Eltern haben vielleicht andere Überlegungen und sehen ganz andere Hindernisse. Beispiel: Bei der Diskussion um einen Umzug ins Seniorenheim fürchten sich viele Eltern
davor, nicht mehr Gastgeber sein zu können. Nicht mehr am Kopf des Tisches zu sitzen und
stolz auf die Familie zu blicken. Vielleicht gibt es andere Wege zu diesem tollen Gefühl, als
das ganze Jahr über für wenige Tage Besuch den kompletten Haushalt aufrechtzuerhalten.
Manchmal finden Sie im Gespräch keine Lösung, weil die Eltern keine Veränderung
wollen. Guter Anlass für eine Rolle rückwärts: Denken Sie zurück an die Zeit, in der es andersherum war. Als Ihre Eltern Ihr Verhalten akzeptieren mussten: Ihren Job, Ihren Lebenspartner, Ihre riskanten Reisen. Wenn Sie zu dem Schluss kommen, das heiße Eisen loszulassen, dann tun Sie das mit Anstand. Kommunizieren Sie das Loslassen, aber ohne Drohung: "Ich habe verstanden, dass du das jetzt nicht ändern möchtest. Ich bin weiter besorgt, aber ich akzeptiere deine Entscheidung. Sag mir gern Bescheid, wenn sich bei dir etwas ändert." Klar, das ist ungewohnt und klingt ein bisschen psycho – aber so bleiben Sie im Gespräch.
Ratlosigkeit
Es sind Geschichten von Ratlosigkeit, von Trauer und dem Ringen um Würde. Es sind Geschichten von Abschied, Schuldgefühlen und Überforderung. Immer geht es ans Eingemachte, an den Kern von Familie, an den Kern des Miteinanders – und so oft stehen sich erwachsene Kinder und ihre Eltern wie Fremde gegenüber.
So war es auch bei den Steinhoffs*. Hilde und Bernhard, beide Jahrgang 1927. "Wenn ich sterben muss, dann will ich einfach tot umfallen", hatte Bernhard einmal leichthin gesagt. Aber so einfach war das nicht.
Putzen, Kochen, Körperpflege – alles fällt schwer
Die Steinhoffs wurden alt. Vieles von dem, was sie früher selbstverständlich erledigt hatten, fiel ihnen nun schwer: das Putzen, das Kochen, die Körperpflege – und das Wegwerfen. Einmal sah Hilde im Fernsehen einen Bericht über die Räumung einer Messi-Wohnung: "All die schönen Sachen", rief sie und starrte auf den Bildschirm, "warum werfen die denn all die schönen Sachen weg?" Sie selbst warf nie etwas weg. Und irgendwann vergaß sie, was sie schon alles angehäuft hatte. Sie wurde dement.
Das Haus wurde zu groß für das, was die Steinhoffs noch leisten konnten. Sie gingen kaum noch unter Leute. Sie hielten sich Katzen, die überall ihr Geschäft verrichteten. Das Haus begann zu stinken. Es kam immer weniger Besuch."Wir müssen etwas tun", sagten die drei Kinder, "wir müssen über alles reden."
"Wir kommen zurecht"
Das Gespräch misslang. Bernhard schwieg. Hilde meinte: "Ihr wollt uns wohl ins Heim stecken?" Die Kinder: ratlos. Wertvolle Zeit verstrich. Hildes Demenz schritt fort, Bernhard blieb ebenso störrisch wie überfordert. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich unerledigte Papierberge, die Steuerbescheide ungeöffnet. Das Haus verfiel. "Ihr braucht Hilfe", sagten die Kinder. "Wir kommen zurecht", sagten die Eltern. Die Kinder organisierten eine Putzfrau. Sie flüchtete nach einem Monat.
Erst als die Steinhoffs so krank wurden, dass sie ins Krankenhaus mussten, veränderte sich etwas. Sie sahen endlich ein, dass sie das Leben allein nicht mehr schafften. Heute wohnen sie in einem Pflegeheim. Es geht ihnen gut. Doch der sprachlose Kampf bis zu dieser Entscheidung hat Opfer gefordert: Die Geschwister sind zerstritten. Das Haus, erbaut mit Geld und Liebe, steht leer. Einer der Söhne bilanziert: "Ich hatte für vieles Verständnis, aber das Ausmaß der Ignoranz meiner Eltern hat mich unglaublich zornig gemacht. Wir sind gegen Wände gerannt – wieder und immer wieder."
Heikle Fragen an die Eltern
In statistischer Hinsicht ist das Altwerden in Deutschland gut erforscht: Heute schon beziehen etwa 2,7 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung – für etwa 25 Milliarden Euro. 70 Prozent aller pflegebedürftigen Senioren werden zu Hause versorgt, der Rest lebt in Heimen. 51 Prozent aller über 60-Jährigen besitzen eine Patientenverfügung.
Aber kein Zahlenwerk erzählt von den Schwierigkeiten, Vater und Mutter, den beiden Vertrauten, die zupackend und geistesgegenwärtig durchs Leben geschritten sind, die einen beschützt haben, denen man gehorcht hat – diesen beiden nächsten Menschen solch ungeheuerliche Fragen stellen zu müssen: Wie stellst du dir deinen Lebensabend vor? Wie willst du gepflegt werden? In welchen Momenten sollen wir Kinder an deiner Stelle entscheiden? Wie willst du sterben?
Kleine Dramen
Nicht nur die großen existenziellen Fragen bleiben in Millionen Familien unausgesprochen – selbst ein Gespräch über scheinbar simple Dinge ist mitunter so konfliktbehaftet, dass es schnell brenzlig wird.
Herr Schwochow, 91, sieht nicht mehr so gut. Auf seiner Kleidung: große Flecken. Auf dem Geschirr im Schrank: Spuren vom Vortag.
Frage: Würde es dich nicht entlasten, eine Putzfrau anzustellen?
Antwort: Ist es euch hier etwa nicht sauber genug?
Herr Ihringer, 86, ist stolz auf seinen Sinn für Ordnung, leidet aber zunehmend unter Alzheimer.
Frage: Wer hat eigentlich den Schlüssel von deinem Bankschließfach? Und wo sind alle wichtigen Unterlagen für den Ernstfall?
Antwort: Noch bin ich nicht tot. Du willst wohl an mein Geld, was?
Herr Schlosser, 83, kann nur noch mit größter Mühe in die Badewanne steigen.
Frage: Sollen wir nicht mal eine bodentiefe Dusche einbauen?
Antwort: Vielleicht irgendwann. Das ist mir jetzt alles zu aufwendig.
Unterschiede in der Dialogfähigkeit
Gerontopsychologin Katja Werheid kennt diese kläglichen Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen, sehr gut. Werheid ist Professorin an der Berliner Humboldt-Universität und Expertin für Psychotherapie mit älteren Menschen. Warum fallen die notwendigen Gespräche oft so schwer?
"Es ist generell schwierig, über Unangenehmes zu reden", sagt Werheid, "und für ältere Menschen gilt das häufig in besonderem Maße." Zwischen der Generation der heute 40- bis 50-Jährigen und der Generation ihrer Eltern bestünden große Unterschiede, was die Fähigkeiten zum Dialog angehe: Die Kinder gehörten der Post-68er-Generation an und seien es gewohnt, zu diskutieren. Ihre Eltern aber entstammten oft noch der Kriegsgeneration. "Damals wurde nicht diskutiert, schon gar nicht mit den eigenen Eltern. Die Kriegsgeneration hat stattdessen gelernt, Probleme zu lösen."
Lauter Abschiede vom Leben
Aber der eigene Verfall lässt sich nicht einfach lösen. Der Umgang mit der Endlichkeit des Lebens ist schwieriger, als ein Haus zu bauen oder Kinder großzuziehen. Zu machen. Gerade das Nicht-mehr-Machen, das Nicht-mehr-Können löst tiefe Ängste aus. Altwerden bedeutet Loslassen. Es bedeutet, jedes Jahr, jeden Monat kleine und große Abschiede zu ertragen. Der letzte Autokauf, die letzte Flugreise, der letzte Abschied am Grab eines guten Freundes. Das auszuhalten ist das eine. Darüber zu sprechen das andere.
Und weil das so schwer ist, lavieren erwachsene Kinder und ihre Eltern jahrelang hilflos um Tabus herum. Drüber reden? Nicht jetzt! Wann dann? Ein andermal! Zu groß, die Angst. Zu häufig, die Missverständnisse. Manchmal reden Eltern und Kinder vollkommen aneinander vorbei, manchmal erntet jeder Versuch, Veränderungen anzustoßen, ein beharrliches Nein. Ende der Diskussion. Für die Kinder oft schwer zu akzeptieren.
"Wieso haben wir keine Seniorenämter?"
"Kinder dürfen ihre Eltern nicht bevormunden, es gibt ein Recht auf Unvernunft", sagt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, "aber diese Unvernunft überfordert Angehörige oft. Und dann fehlt es an Hilfe. Wieso haben wir eigentlich Jugendämter, aber keine Seniorenämter, die uns beraten?"
Dem Leben sind Tabus total egal. Es konfrontiert Familien auch dann mit einem Infarkt, einer gebrochenen Hüfte oder einem Autounfall, wenn vorher nichts besprochen wurde. Natürlich ahnen die erwachsenen Kinder, welche Herausforderungen auf sie zukommen. Sie wissen auch, dass sie jetzt besprechen müssten, wie es weitergehen soll. Zu warten heißt, den Druck zu erhöhen, so weit, dass er irgendwann nur noch mit einem lauten Zischen entweichen kann: Die Geschwister werden zusammengetrommelt, Termin zum klärenden Gespräch. Vati soll endlich den Führerschein abgeben! Mutti sich endlich Hilfe im Haushalt holen! Und dann brennt die Hütte.
Bei Entscheidungsdruck machen sie dicht
"Für einen älteren Menschen kann es sehr schwierig sein, wenn er plötzlich und unvermittelt unter Entscheidungsdruck gerät", sagt Katja Werheid, "viele Senioren machen dann erst einmal dicht und blocken ab."
Das Gehirn alter Menschen reagiert anders. Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis lassen nach, auch das Zeitempfinden verändert sich. Die Fähigkeit, sich auf neue Dinge einzustellen, nimmt im Alter rapide ab. Schnelle Entscheidungen, plötzliche Veränderungen oder auch nur lebendige Gespräche überfordern alte Menschen leicht. Das spüren sie – werden noch unsicherer und reagieren mit Ablehnung oder Aggressivität.
Fertige Rezepte helfen meist nicht
Katja Werheid geht es vor allem um Empathie, Sympathie, Offenheit. Den Eltern Raum lassen für eigene Vorstellungen. Fluchtmöglichkeiten. "Es ist sinnvoller, langsam und geduldig mit den Eltern zu reden, als irgendwann zu Hause einzufliegen und für die Eltern fertige Rezepte parat zu haben. Auch gut gemeinte Carepakete, die aus großer Höhe abgeworfen werden, tun weh, wenn sie einen plötzlich treffen." Sie regt an, Alltagsrituale zu nutzen, die sich in vielen Familien herausgebildet haben, um heikle Themen anzusprechen: sei es in der Küche beim Abwasch oder beim gemeinsamen Spaziergang. Oft helfe es, sich ein wenig mehr in den älteren Menschen hineinzudenken. In Gesprächen mit den erwachsenen Kindern würden Eltern immer mit zwei Dingen konfrontiert: mit der Trauer um das Verlorene und mit der Angst vor dem, was noch kommt. "Gegen die Trauer hilft Trost, gegen die Angst helfen Sicherheit gebende Erfahrungen", sagt Katja Werheid, "gerade die Kriegsgeneration hat in ihrer Jugend solche guten Erfahrungen oft kaum gemacht."
Manchmal aber enden alle wohlgemeinten Versuche, alle Bemühungen um eine gute Lösung im Nichts. Was dann?
"Autonomie nicht einschränken"
"Die Angehörigen müssen Entscheidungen ihrer Eltern respektieren und dürfen sie nicht in ihrer Autonomie einschränken", sagt Heike Nordwald, Beraterin beim Pflegestützpunkt Hamburg-Mitte. "Erst wenn die Senioren sich oder andere gefährden, ist es sinnvoll, über weitergehende Schritte nachzudenken. Dann kann das Amtsgericht bestimmte Entscheidungen wie die Einweisung ins Krankenhaus oder die Unterbringung in einem Pflegeheim verfügen. Letztes Mittel wäre die Einsetzung eines rechtlichen Betreuers für die Eltern."
Ein schwerer Schritt – auch wegen des Rollenwechsels. Früher haben die Kinder auf ihre Eltern gehört, jetzt sorgen sie im Extremfall dafür, dass etwas gegen deren erklärten Willen geschieht.
Eine solche Entscheidung belastet schon Familien schwer, in denen immer über alles Wichtige gesprochen wurde.
Dramatische Auseinandersetzungen eher vermeiden
Um wie viel schwerer aber wird es in Familien, in denen zwischen Kindern und Eltern ungelöste Konflikte, unausgesprochene Vorwürfe und verschleppte Verletzungen schwelen? Es können dann leicht Gedanken aufkommen, die eher an Rache erinnern als an den Versuch, Probleme zu lösen: Immer hast du mich schlecht behandelt, nun glaub ja nicht, dass ich dich gut behandeln werde! "Man muss sehr genau prüfen, ob man wirklich all die unerledigten Dinge zwischen Eltern und Kindern auf den Tisch legen will", sagt Katja Werheid, "und ob die Eltern überhaupt noch zu einer solchen dramatischen Auseinandersetzung in der Lage sind. Nicht jede schmutzige Wäsche muss gewaschen werden. Manchmal kann sie einfach so bleiben, wie sie ist."
Dabei hilft, wenn die Kinder irgendwann erkennen, dass sie erwachsen und der Macht der Eltern nicht mehr ausgeliefert sind. Wer seinen Frieden mit der Vergangenheit macht, dem gelingt vielleicht das Kunststück, zu verzeihen und nach vorn zu schauen. In einem Beitrag für die Zeitschrift "Psychologie heute" schreibt die Psychologin und Buchautorin Ursula Nuber: "Den Eltern mit Nachsicht und Verständnis zu begegnen, setzt voraus, dass Sie es schaffen, die Eltern als getrennt von sich selbst zu betrachten. Als Mann und Frau, die ihre eigene Geschichte haben und die erst in zweiter Linie Ihre Eltern sind."
Rechtzeitig und auf Augehöhe
Genau das hat Familie Bossel aus Hamburg hinbekommen. Christiane Bossel-Schwenck hat sich mit ihrer Mutter auseinandergesetzt. Und mit ihr, lange bevor das Thema Pflege und Tod auf den Tisch kam, auf Augenhöhe gesprochen. So wie zwei erwachsene Frauen miteinander umgehen. "Wir zwei tragen keine alten Geschichten mehr aus", sagt sie.
Diesen offenen Umgang gibt sie auch an die nächste Generation weiter: Mit ihrer 21 Jahre alten Tochter spricht die Hamburgerin immer mal wieder über ein selbstbestimmtes Leben, über Abschiede, Tod und Trauer. "Wir setzen uns nicht extra dafür hin. Das geschieht so nebenbei. Ich glaube, das gibt uns Freiheit und Gelassenheit. Unangenehmes wegzuschieben kostet nur Energie."