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Wenn die Eltern alt werden Wir müssen reden!

Irgendwann kommt der Moment, dass Mutter und Vater nicht mehr können, wie sie wollen. Darüber muss die Familie reden. Aber wie? Ein Wegweiser.
Von Tobias Schmitz

Wenn irgendwann der Tag kommt, dann wird für alles gesorgt sein. Wenn die Kräfte der Eltern nachlassen, wenn ihnen die alltäglichen Dinge des Lebens nicht mehr gelingen, dann wissen die Kinder, was zu tun ist. Wann sie eingreifen dürfen. Und auch, was passiert, wenn einer der beiden, Margot und Walter Bossel aus Hamburg, pflegebedürftig wird. Sie ist 85, er 89. "Meine Mutter möchte nicht ins Heim", sagt Tochter Christiane Bossel-Schwenck, 55. "Sie weiß aber auch, dass ich sie nur bis zu einem gewissen Grad pflegen werde. Ich will nicht in diese permanente Überlastung von Pflegenden kommen. Das hat meine Mutter akzeptiert. Für mich eine große emotionale Entlastung." Margot Bossel nickt. Sie scheint ganz mit sich und dieser Entscheidung im Reinen. Bei den Bossels sind es vor allem Mutter und Tochter, die seit Jahren im Gespräch sind über die letzten Dinge des Lebens.

Der Autor

Tobias Schmitz, 44, bekam neulich Post von seiner Mutter, 65. Im Umschlag lauter Dinge für den Fall der Fälle: ihre Patientenverfügung, eine Vorsorgevollmacht und detaillierte Wünsche für ihre Beerdigung. Seitdem fühlt sich der Autor erleichtert. Weil er nun weiß, was er in einer hoffentlich fernen Zukunft tun und lassen soll.

"Vor längerer Zeit starb eine Freundin meiner Mutter, und da erzählte sie mir von der Beerdigung. Ich konnte ganz leicht einhaken und sie nach ihren eigenen Gedanken zum Lebensende fragen", sagt Christiane Bossel-Schwenck. So begann zwischen den beiden ein ständig fortgeführter Dialog. Sie besuchten sogar gemeinsam ein Beerdigungsunternehmen. "Danach war meine Mutter gelöst", erzählt die Tochter. "Mein Bruder und ich wissen seitdem, wie sie sterben will: nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause, wo sich Familie und Freunde in aller Ruhe von ihr verabschieden können." Sie kennen die Lieder, die auf der Beerdigung gespielt werden sollen, und die Lieblingsblumen, die auf dem Urnengrab stehen werden.

Wenn irgendwann der Tag kommt, dann ist alles besprochen. 

Der richtige Zeitpunkt

Es ist außergewöhnlich, dass Eltern und Kinder so offen und respektvoll über den letzten gemeinsamen Weg sprechen können. In den meisten Familien herrscht große Sprachlosigkeit, wenn es um das Altwerden, das Schwächerwerden, das Nicht-mehr-Können der Eltern geht. Erwachsene Kinder fragen sich verzweifelt: Wann ist der Zeitpunkt, diese Themen anzusprechen? Wie finden wir die richtigen Worte für Verfall, für Unvermögen und manchmal auch Unvernunft? Und wie soll man bloß geduldig bleiben, wenn die Eltern beharrlich jede Veränderung ablehnen?

Herr Marburg ist 88, kann kaum noch sehen – und fährt trotzdem noch Auto. Frau Herzog, 79, trägt zigtausend Euro zu einer Wahrsagerin – verbietet ihren Kindern aber jede Einmischung. Herr Diekmann, 82, kommt seit einem Unfall kaum noch die Treppe hoch – lehnt aber jede Hilfe ab. Und Frau Meckelburg, 73, dämmert nach einem Schlaganfall so dahin – ohne dass die Angehörigen sich je darüber ausgetauscht hätten, was in einem solchen Fall zu tun sei.

Das Internet ist voll von Hilferufen überforderter Angehöriger. Schon die Überschriften in den einschlägigen Foren erzählen von kleinen und großen Dramen: "Was tun mit sturer Tante?" – "Vater lehnt Hilfe ab" – "Wie kann ich eine Seniorin zum Wassertrinken bewegen?" 

Ratlosigkeit

Es sind Geschichten von Ratlosigkeit, von Trauer und dem Ringen um Würde. Es sind Geschichten von Abschied, Schuldgefühlen und Überforderung. Immer geht es ans Eingemachte, an den Kern von Familie, an den Kern des Miteinanders – und so oft stehen sich erwachsene Kinder und ihre Eltern wie Fremde gegenüber.

So war es auch bei den Steinhoffs*. Hilde und Bernhard, beide Jahrgang 1927. "Wenn ich sterben muss, dann will ich einfach tot umfallen", hatte Bernhard einmal leichthin gesagt. Aber so einfach war das nicht.

Putzen, Kochen, Körperpflege – alles fällt schwer

Die Steinhoffs wurden alt. Vieles von dem, was sie früher selbstverständlich erledigt hatten, fiel ihnen nun schwer: das Putzen, das Kochen, die Körperpflege – und das Wegwerfen. Einmal sah Hilde im Fernsehen einen Bericht über die Räumung einer Messi-Wohnung: "All die schönen Sachen", rief sie und starrte auf den Bildschirm, "warum werfen die denn all die schönen Sachen weg?" Sie selbst warf nie etwas weg. Und irgendwann vergaß sie, was sie schon alles angehäuft hatte. Sie wurde dement.

Das Haus wurde zu groß für das, was die Steinhoffs noch leisten konnten. Sie gingen kaum noch unter Leute. Sie hielten sich Katzen, die überall ihr Geschäft verrichteten. Das Haus begann zu stinken. Es kam immer weniger Besuch."Wir müssen etwas tun", sagten die drei Kinder, "wir müssen über alles reden."

"Wir kommen zurecht"

Das Gespräch misslang. Bernhard schwieg. Hilde meinte: "Ihr wollt uns wohl ins Heim stecken?" Die Kinder: ratlos. Wertvolle Zeit verstrich. Hildes Demenz schritt fort, Bernhard blieb ebenso störrisch wie überfordert. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich unerledigte Papierberge, die Steuerbescheide ungeöffnet. Das Haus verfiel. "Ihr braucht Hilfe", sagten die Kinder. "Wir kommen zurecht", sagten die Eltern. Die Kinder organisierten eine Putzfrau. Sie flüchtete nach einem Monat.

Erst als die Steinhoffs so krank wurden, dass sie ins Krankenhaus mussten, veränderte sich etwas. Sie sahen endlich ein, dass sie das Leben allein nicht mehr schafften. Heute wohnen sie in einem Pflegeheim. Es geht ihnen gut. Doch der sprachlose Kampf bis zu dieser Entscheidung hat Opfer gefordert: Die Geschwister sind zerstritten. Das Haus, erbaut mit Geld und Liebe, steht leer. Einer der Söhne bilanziert: "Ich hatte für vieles Verständnis, aber das Ausmaß der Ignoranz meiner Eltern hat mich unglaublich zornig gemacht. Wir sind gegen Wände gerannt – wieder und immer wieder."

Heikle Fragen an die Eltern

In statistischer Hinsicht ist das Altwerden in Deutschland gut erforscht: Heute schon beziehen etwa 2,7 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung – für etwa 25 Milliarden Euro. 70 Prozent aller pflegebedürftigen Senioren werden zu Hause versorgt, der Rest lebt in Heimen. 51 Prozent aller über 60-Jährigen besitzen eine Patientenverfügung.

Aber kein Zahlenwerk erzählt von den Schwierigkeiten, Vater und Mutter, den beiden Vertrauten, die zupackend und geistesgegenwärtig durchs Leben geschritten sind, die einen beschützt haben, denen man gehorcht hat – diesen beiden nächsten Menschen solch ungeheuerliche Fragen stellen zu müssen: Wie stellst du dir deinen Lebensabend vor? Wie willst du gepflegt werden? In welchen Momenten sollen wir Kinder an deiner Stelle entscheiden? Wie willst du sterben?

Kleine Dramen

Nicht nur die großen existenziellen Fragen bleiben in Millionen Familien unausgesprochen – selbst ein Gespräch über scheinbar simple Dinge ist mitunter so konfliktbehaftet, dass es schnell brenzlig wird.

Herr Schwochow, 91, sieht nicht mehr so gut. Auf seiner Kleidung: große Flecken. Auf dem Geschirr im Schrank: Spuren vom Vortag.
Frage: Würde es dich nicht entlasten, eine Putzfrau anzustellen?
Antwort: Ist es euch hier etwa nicht sauber genug?

Herr Ihringer, 86, ist stolz auf seinen Sinn für Ordnung, leidet aber zunehmend unter Alzheimer.
Frage: Wer hat eigentlich den Schlüssel von deinem Bankschließfach? Und wo sind alle wichtigen Unterlagen für den Ernstfall?
Antwort: Noch bin ich nicht tot. Du willst wohl an mein Geld, was?

Herr Schlosser, 83, kann nur noch mit größter Mühe in die Badewanne steigen.
Frage: Sollen wir nicht mal eine bodentiefe Dusche einbauen?
Antwort: Vielleicht irgendwann. Das ist mir jetzt alles zu aufwendig.

Unterschiede in der Dialogfähigkeit

Gerontopsychologin Katja Werheid kennt diese kläglichen Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen, sehr gut. Werheid ist Professorin an der Berliner Humboldt-Universität und Expertin für Psychotherapie mit älteren Menschen. Warum fallen die notwendigen Gespräche oft so schwer?

"Es ist generell schwierig, über Unangenehmes zu reden", sagt Werheid, "und für ältere Menschen gilt das häufig in besonderem Maße." Zwischen der Generation der heute 40- bis 50-Jährigen und der Generation ihrer Eltern bestünden große Unterschiede, was die Fähigkeiten zum Dialog angehe: Die Kinder gehörten der Post-68er-Generation an und seien es gewohnt, zu diskutieren. Ihre Eltern aber entstammten oft noch der Kriegsgeneration. "Damals wurde nicht diskutiert, schon gar nicht mit den eigenen Eltern. Die Kriegsgeneration hat stattdessen gelernt, Probleme zu lösen." 

Lauter Abschiede vom Leben

Aber der eigene Verfall lässt sich nicht einfach lösen. Der Umgang mit der Endlichkeit des Lebens ist schwieriger, als ein Haus zu bauen oder Kinder großzuziehen. Zu machen. Gerade das Nicht-mehr-Machen, das Nicht-mehr-Können löst tiefe Ängste aus. Altwerden bedeutet Loslassen. Es bedeutet, jedes Jahr, jeden Monat kleine und große Abschiede zu ertragen. Der letzte Autokauf, die letzte Flugreise, der letzte Abschied am Grab eines guten Freundes. Das auszuhalten ist das eine. Darüber zu sprechen das andere.

Und weil das so schwer ist, lavieren erwachsene Kinder und ihre Eltern jahrelang hilflos um Tabus herum. Drüber reden? Nicht jetzt! Wann dann? Ein andermal! Zu groß, die Angst. Zu häufig, die Missverständnisse. Manchmal reden Eltern und Kinder vollkommen aneinander vorbei, manchmal erntet jeder Versuch, Veränderungen anzustoßen, ein beharrliches Nein. Ende der Diskussion. Für die Kinder oft schwer zu akzeptieren.

"Wieso haben wir keine Seniorenämter?"

"Kinder dürfen ihre Eltern nicht bevormunden, es gibt ein Recht auf Unvernunft", sagt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, "aber diese Unvernunft überfordert Angehörige oft. Und dann fehlt es an Hilfe. Wieso haben wir eigentlich Jugendämter, aber keine Seniorenämter, die uns beraten?"

Dem Leben sind Tabus total egal. Es konfrontiert Familien auch dann mit einem Infarkt, einer gebrochenen Hüfte oder einem Autounfall, wenn vorher nichts besprochen wurde. Natürlich ahnen die erwachsenen Kinder, welche Herausforderungen auf sie zukommen. Sie wissen auch, dass sie jetzt besprechen müssten, wie es weitergehen soll. Zu warten heißt, den Druck zu erhöhen, so weit, dass er irgendwann nur noch mit einem lauten Zischen entweichen kann: Die Geschwister werden zusammengetrommelt, Termin zum klärenden Gespräch. Vati soll endlich den Führerschein abgeben! Mutti sich endlich Hilfe im Haushalt holen! Und dann brennt die Hütte.

Bei Entscheidungsdruck machen sie dicht

"Für einen älteren Menschen kann es sehr schwierig sein, wenn er plötzlich und unvermittelt unter Entscheidungsdruck gerät", sagt Katja Werheid, "viele Senioren machen dann erst einmal dicht und blocken ab."

Das Gehirn alter Menschen reagiert anders. Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis lassen nach, auch das Zeitempfinden verändert sich. Die Fähigkeit, sich auf neue Dinge einzustellen, nimmt im Alter rapide ab. Schnelle Entscheidungen, plötzliche Veränderungen oder auch nur lebendige Gespräche überfordern alte Menschen leicht. Das spüren sie – werden noch unsicherer und reagieren mit Ablehnung oder Aggressivität.

Fertige Rezepte helfen meist nicht 

Katja Werheid geht es vor allem um Empathie, Sympathie, Offenheit. Den Eltern Raum lassen für eigene Vorstellungen. Fluchtmöglichkeiten. "Es ist sinnvoller, langsam und geduldig mit den Eltern zu reden, als irgendwann zu Hause einzufliegen und für die Eltern fertige Rezepte parat zu haben. Auch gut gemeinte Carepakete, die aus großer Höhe abgeworfen werden, tun weh, wenn sie einen plötzlich treffen." Sie regt an, Alltagsrituale zu nutzen, die sich in vielen Familien herausgebildet haben, um heikle Themen anzusprechen: sei es in der Küche beim Abwasch oder beim gemeinsamen Spaziergang. Oft helfe es, sich ein wenig mehr in den älteren Menschen hineinzudenken. In Gesprächen mit den erwachsenen Kindern würden Eltern immer mit zwei Dingen konfrontiert: mit der Trauer um das Verlorene und mit der Angst vor dem, was noch kommt. "Gegen die Trauer hilft Trost, gegen die Angst helfen Sicherheit gebende Erfahrungen", sagt Katja Werheid, "gerade die Kriegsgeneration hat in ihrer Jugend solche guten Erfahrungen oft kaum gemacht."

Manchmal aber enden alle wohlgemeinten Versuche, alle Bemühungen um eine gute Lösung im Nichts. Was dann?

"Autonomie nicht einschränken"

"Die Angehörigen müssen Entscheidungen ihrer Eltern respektieren und dürfen sie nicht in ihrer Autonomie einschränken", sagt Heike Nordwald, Beraterin beim Pflegestützpunkt Hamburg-Mitte. "Erst wenn die Senioren sich oder andere gefährden, ist es sinnvoll, über weitergehende Schritte nachzudenken. Dann kann das Amtsgericht bestimmte Entscheidungen wie die Einweisung ins Krankenhaus oder die Unterbringung in einem Pflegeheim verfügen. Letztes Mittel wäre die Einsetzung eines rechtlichen Betreuers für die Eltern."

Ein schwerer Schritt – auch wegen des Rollenwechsels. Früher haben die Kinder auf ihre Eltern gehört, jetzt sorgen sie im Extremfall dafür, dass etwas gegen deren erklärten Willen geschieht.

Eine solche Entscheidung belastet schon Familien schwer, in denen immer über alles Wichtige gesprochen wurde.

Dramatische Auseinandersetzungen eher vermeiden

Um wie viel schwerer aber wird es in Familien, in denen zwischen Kindern und Eltern ungelöste Konflikte, unausgesprochene Vorwürfe und verschleppte Verletzungen schwelen? Es können dann leicht Gedanken aufkommen, die eher an Rache erinnern als an den Versuch, Probleme zu lösen: Immer hast du mich schlecht behandelt, nun glaub ja nicht, dass ich dich gut behandeln werde! "Man muss sehr genau prüfen, ob man wirklich all die unerledigten Dinge zwischen Eltern und Kindern auf den Tisch legen will", sagt Katja Werheid, "und ob die Eltern überhaupt noch zu einer solchen dramatischen Auseinandersetzung in der Lage sind. Nicht jede schmutzige Wäsche muss gewaschen werden. Manchmal kann sie einfach so bleiben, wie sie ist."

Dabei hilft, wenn die Kinder irgendwann erkennen, dass sie erwachsen und der Macht der Eltern nicht mehr ausgeliefert sind. Wer seinen Frieden mit der Vergangenheit macht, dem gelingt vielleicht das Kunststück, zu verzeihen und nach vorn zu schauen. In einem Beitrag für die Zeitschrift "Psychologie heute" schreibt die Psychologin und Buchautorin Ursula Nuber: "Den Eltern mit Nachsicht und Verständnis zu begegnen, setzt voraus, dass Sie es schaffen, die Eltern als getrennt von sich selbst zu betrachten. Als Mann und Frau, die ihre eigene Geschichte haben und die erst in zweiter Linie Ihre Eltern sind."

Rechtzeitig und auf Augehöhe

Genau das hat Familie Bossel aus Hamburg hinbekommen. Christiane Bossel-Schwenck hat sich mit ihrer Mutter auseinandergesetzt. Und mit ihr, lange bevor das Thema Pflege und Tod auf den Tisch kam, auf Augenhöhe gesprochen. So wie zwei erwachsene Frauen miteinander umgehen. "Wir zwei tragen keine alten Geschichten mehr aus", sagt sie.

Diesen offenen Umgang gibt sie auch an die nächste Generation weiter: Mit ihrer 21 Jahre alten Tochter spricht die Hamburgerin immer mal wieder über ein selbstbestimmtes Leben, über Abschiede, Tod und Trauer. "Wir setzen uns nicht extra dafür hin. Das geschieht so nebenbei. Ich glaube, das gibt uns Freiheit und Gelassenheit. Unangenehmes wegzuschieben kostet nur Energie."  

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