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SPIEGEL ONLINE

Autonomes Lastenrad Dieses Dreirad braucht keinen Fahrer

Selbstfahrende Autos gibt es schon, nun haben vier junge Tüftler ein Lastenrad entwickelt, das von allein fährt. Die Erfindung könnte die Welt ein bisschen besser machen.

"Komm zu Papa", ruft Kristjan Maruste und lockt sein Baby mit der Hand. Doch das bockt und bleibt stehen. Marustes Baby ist ein E-Bike. Kein gewöhnliches aus der Massenproduktion. Sondern eines, das ohne Mensch auf dem Sattel radeln kann. Es gehört zu den ersten autonom fahrenden Lastenfahrrädern der Welt.

Wenn denn die Technik reibungslos funktioniert. "Sie ist ein wenig müde", sagt der junge Mann entschuldigend zum Vorführeffekt. "Bestimmt braucht sie eine Wellness-Behandlung."

Der Fahrrad-Absatz boomt. Besonders gefragt sind elektrisch unterstützte Zweiräder. Allein in Deutschland stieg der E-Bike-Absatz laut Bundesverkehrsministerium im Jahr 2014 um 17 Prozent auf 480.000 Stück. "E-Bikes gehört die Zukunft", glaubt auch Kristjan Maruste. "Doch was ist die Zukunft von E-Bikes?", fragt der 27-jährige Tüftler aus Estland rhetorisch. Maruste hofft, mit seinem Projekt die Antwort gefunden zu haben. Doch sicher ist er nicht: "Es ist wie beim Angeln. Da wirft man auch die Rute aus und guckt, ob etwas passiert."

Das Mietfahrrad findet allein zurück

Das autonom fahrende Lastenfahrrad ist ein Projekt des Start-up coModule. Zusammen mit drei weiteren Ex-Studenten der Technischen Universität in Tallinn hat Maruste die Firma 2014 gegründet. Kennengelernt haben sich die Männer bei der Formula Student, einem internationalen Konstruktionswettbewerb für Studenten, bei dem es darum geht, Rennautos zu bauen.

Zuletzt bauten die Studenten E-Antriebe, sie gehörten zu den fünf besten Formula-Student-Teams der Welt. Dass sie nun Technologie fürs Fahrrad anbieten, ist auch ökologisch motiviert. "Jedes Jahr sterben sieben Millionen Menschen an Luftverschmutzung", sagt Maruste und bezieht sich auf eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Der Hauptsitz von coModule befindet sich in Berlin. Die Hardware, die zum autonomen Fahren benötigt wird, wird in Estland gebaut. "Berlin ist die Hochburg der E-Mobilität", begründet Maruste die Standortentscheidung. Tatsächlich? Bisher war die Hauptstadt eher nicht für ihre Fahrzeugproduktion berühmt. Dafür gilt sie als Gründermetropole und könnte nach einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey bis 2020 zur Kapitale der Start-up-Szene in ganz Europa werden. Das meiste Geld deutscher und ausländischer Wagniskapitalgeber fließt hierzulande nach Berlin.

Auch coModule wurde finanziell kräftig angeschoben. Unter anderem vom Startupbootcamp , einem Trainingslager für Jungunternehmer, das von Industriegrößen wie Vodafone oder Mercedes unterstützt wird, und dem High-Tech Gründerfonds , Deutschlands größtem Frühphaseninvestor. Letzterem war die Idee von Maruste und seinen drei Co-Gründern eine halbe Million Euro wert. "Außerdem gibt es von Berlin einen Direktflug nach Tallinn", schiebt der Este nach.

Maruste kippt sein Smartphone nach links. Langsam drehen sich auch die Räder des weißen Lastenrads nach links. Marustes Baby ist wieder aufgewacht. Noch steuert eine selbstentwickelte Smartphone-App das Lastenrad, doch künftig soll sich das Bike mit einer "Follow-me-Funktion" auch losgelöst vom Handy fortbewegen können. So könnte es nach der Vorstellung von coModule beispielsweise dem Postboten folgen, Medikamente in Krisengebieten verteilen oder als Mietfahrrad zurück zu seiner Station finden.

Der studierte Mechatroniker bewegt einen roten Punkt auf seiner App nach oben. Nahezu ohne Geräusche fährt das Rad los. Es zuckelt mit fünf km/h über den Asphalt des EUREF-Campus in Berlin, einem Gelände, das sich selbst als Stadtquartier der Zukunft bezeichnet.

Auf dem Hof parken E-Autos, ein Beach-Volleyballfeld lädt zum Sport in der Mittagspause ein, ebenso wie Kickertische. In der sogenannten Green Garage, einem grün gestrichenen Gebäudekomplex, sitzt coModule, zusammen mit anderen Startups. In der direkten Nachbarschaft befasst sich eine Firma mit Elektroroller-Sharing. Das Büro von coModule ist nicht größer als ein Studentenzimmer, früher war es tatsächlich eine Garage. Ähnlich wie Apple oder Microsoft soll es die Mini-Firma aus der engen Bude heraus zu einem Weltkonzern schaffen - das ist der Traum der Gründer.

Die Plattform sammelt Daten über das Fahrverhalten

Maruste zieht aus seiner Hosentasche ein Gerät, das diesen Traum verwirklichen soll. Das Modul ist nicht größer als eine Streichholzschachtel und trotzdem Herz und Gehirn des Lastenfahrrads. Das Rad selbst sei ein normales Serienmodell. "Wir sind kein Fahrradhersteller, sondern ein Zulieferer", sagt der Ingenieur. Auf einer Platine ist die Elektronik befestigt, die für eine Bluetooth-Verbindung und GPS benötigt wird, ebenso wie eine SIM-Karte. Mithilfe der Elektronik werden die Motoren für Antrieb und Lenkung des Fahrrads angesteuert. Aber die Plattform kann noch mehr: Sie sammelt Daten.

Wohin fährt das Rad, wie viele Kilometer legt es täglich zurück, wie weit reicht der Saft in der Batterie? Informationen, die sowohl für den Kunden als auch den Händler und den Hersteller wertvoll sein können. "Heute verlieren die Verkäufer komplett den Draht zu den Kunden", sagt Welix Klaas, einer der Mitgründer von coModule. Dabei könnte das Wissen über dessen Fahrgewohnheiten in Service und Entwicklung einfließen. Drei Fahrradmarken testen bereits die Plattform der Ex-Studenten. Als Beispiel für den Nutzwert gesammelter Daten nennt Klaas den E-Auto-Pionier Tesla: Nach Auswertung der Infos aus den Batterien von Kunden, die den Speicher beim Fahren eher schonten denn strapazierten, habe der Hersteller die Garantie für das Herzstück des E-Autos verlängern können, erzählt Klaas.

coModule tritt bei der IAA in Frankfurt auf

Das Sammeln von Daten, die der Nutzer beim Fahren produziert, gilt derzeit als großes Thema in der Fahrzeugindustrie. Gerade Autohersteller hoffen, mit den Infos neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. So könnten zum Beispiel in Zukunft entlang einer Route, die der Fahrer täglich pendelt, Anzeigen von Supermärkten oder Boutiquen im Fahrzeug eingeblendet werden.

Ihre Technologie werden die jungen Unternehmer auch auf der IAA präsentieren. Dass sie nicht komplett falsch liegen mit ihrer Idee, zeigt die Konkurrenz: Auch der Autobauer Ford hat im Frühjahr ein vernetztes, teils autonom fahrendes Rad vorgestellt.