Kirche:Der Schneider für den Herrn

Talarschneider Albrecht

Dem Internet verdankt Reinhard Albrecht steigende Auftragszahlen.

(Foto: Peter Roggenthin)

Aus vier Meter feinstem Stoff fertigt Reinhard Albrecht in Nürnberg Talare für die evangelischen Pfarrer in Bayern. Aber wer soll die noch tragen, wenn es immer weniger Pfarrer gibt?

Von Mirjam Uhrich

Bayerns Pfarrer passen in ein paar schwarze Leitz-Ordner. 4500 Pfarrer hat Reinhard Albrecht fein säuberlich abgeheftet, in alphabetischer Reihenfolge. Ihre Körpergröße, ihre Oberweite, ihre Adresse. "Das ist der gesamte Personalstand in Bayern ab 1979", sagt Albrecht und blättert durch die Seiten. Er kennt alle Pfarrer persönlich. Seit 37 Jahren schneidert er die Talare der evangelischen Kirche in Bayern.

Ein aussterbender Beruf. "In Bayern gibt es sonst keine Talarschneider mehr." Nur eine Kollegin im Landkreis Hof fällt dem 62-Jährigen noch ein. Aber sonst? "Ich vermute mal, dass in ganz Deutschland nur noch vier, fünf Maßschneider Talare fertigen. Unser Beruf ist am Ende", sagt er leise. In seiner Werkstatt scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

Schon das Messingschild in geschwungener Schreibschrift am Eingang des Nassauer Hauses gegenüber der evangelisch-lutherischen Kirche St. Lorenz wirkt unter der magentafarbenen Telekom-Werbung herrlich altmodisch. Die Stufen auf den Weg in den vierten Stock knarzen. Albrecht öffnet die Tür im hellblauen Kurzarmhemd, mit sorgsam gezwirbeltem Schnauzer und Maßband um den Hals.

"Wir arbeiten hier wie die Schneider eh und je", betont er gleich am Anfang. Die Nähmaschinen stammen aus den Fünfzigerjahren, sie haben weder ein beleuchtetes Display noch digitale Nähprogramme. Aber wenn eine Maschine kaputtgeht, kann Albrecht sie selbst reparieren. Details näht er sowieso lieber mit der Hand. Albrecht liebt die Tradition. "Die Tracht. Das Handwerk. Der Brauch" prangt in Großbuchstaben an seiner Pinnwand. Das Handwerk hat er von seinem Vater gelernt, die Talaranfertigung von Ernst Schmalzreich, dem ersten, der den Talaren die heutige Form gegeben hat. Ungeübte Kollegen brauchen eine Woche für einen Talar, Albrecht inzwischen zwölf bis 15 Stunden.

Früher hat er 200 Talare pro Jahr genäht, aber die Zeiten sind vorbei. Es gibt immer weniger junge Pfarrer, also immer weniger Aufträge. Vor ein paar Jahren hat sich Albrecht neu orientieren müssen. Statt seiner geliebten Talare hat er damals Opernkostüme und Maßanzüge genäht. Seine "späten Wanderjahre" nennt Albrecht die Erfahrung heute. Dieses Jahr laufen die Geschäfte wieder besser. 150 Talare werden es sein, schätzt Albrecht. Eine gute Zahl. Das Internet hilft der Traditionswerkstatt, immer mehr Bestellungen laufen online ab. Albrecht fehlt dann zwar der Kundenkontakt, das Ratschen und Abmessen vor dem antiken Spiegelschrank im Schein der Kronleuchter. Aber dafür tragen jetzt Pfarrer in Jerusalem, im Elsass oder in Österreich seine Talare.

Je nach Region und Landeskirche ändern sich Schnitt, Besatz und Stoff. "Der bayerische Talar hat einen Samtbesatz am Kragen, ein gesmoktes Band und engere Ärmel. Das ist ganz praktisch bei den großen Kirchentüren, dann bleibt man nicht so leicht an der Klinke hängen", sagt Albrecht, während er über einen Talar streicht, der gerade eine der verschlissenen Modepuppen kleidet.

Ein Talar kann 30 Jahre halten

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts müssen alle evangelischen Pfarrer in Bayern Talar tragen. Uniformen waren damals in Mode. "Jeder Landschneider hatte aber andere Vorstellungen und Schnittmuster", sagt Albrecht. Er gerät ins Schwärmen, erzählt von Talarmoden und Pfarrdynastien der vergangenen Jahrhunderte. Sein fränkischer Akzent kommt jetzt noch stärker raus. Aus seinem "t" wird ein "d", aus dem "p" ein "b". "Ich war schon immer ein bisschen historisch angehaucht", sagt er fast schon entschuldigend, nur um gleich auf den nächsten Stich zu kommen, der seine Werkstatt schmückt.

Erst 1922 wurde der Talar in Bayern einheitlich, mit dem Modell von seinem Vorgänger, erzählt Albrecht weiter. "Den Schnitt passe ich nur ein bisschen der Zeit an. In den Sechzigerjahren waren die Pfarrer rausgefressen, in den Siebzigerjahren kamen die Frauen. Heute sind die Leute wieder schlanker, sie tragen Pulli statt Sakko unter dem Talar." Trotz Maßarbeit bleibt nicht viel Spielraum für Sonderwünsche.

Talarschneider Albrecht

Am liebsten ist es dem Schneider, wenn er bei seinen Kunden selbst Maß nehmen kann.

(Foto: Peter Roggenthin)

Die Pfarrer können zwischen drei Stoffarten wählen, alle schwarz. Albrecht schüttelt den Kopf. "Es gibt nicht ein Schwarz. Allein das Garn gibt es in sieben verschiedenen Schwarztönen." Albrechts Talare sind tiefschwarz, das ist am elegantesten. Dafür hat der 62-Jährige sogar einen Deal mit dem Färber: Albrechts Stoffe kommen immer als erstes ins Farbbad, dann ist die Farbe am intensivsten.

700 Euro kostet ein Talar, dafür soll der Stoff bis zu 30 Jahre halten. Stoffe in dieser Qualität werden in Deutschland nicht mehr produziert, erzählt der Schneider. Satin bekommt er nur noch aus Italien, in Oberfranken gibt es immerhin eine Weberei für den Samtstoff. "Für den bayerischen Talar brauche ich zum Glück nur vier Meter Stoff, für den preußischen Talar bräuchte ich fünf," sagt er schmunzelnd.

Manchmal muss es sehr schnell gehen

Saurer Regen ist für den Stoff am schlimmsten, dadurch wird der Samt grün-grau, erzählt der 62-Jährige. Dann tauscht er den Samtbezug aus, manchmal flickt er auch kleine Brandlöcher oder kürzt den Saum. Im Zweifelsfall muss es schnell gehen. Wenn kurz vor Weihnachten der Talar geklaut wird zum Beispiel. Oder wenn ein Pfarrer in den Weihnachtstagen zwei Talare ruiniert und am Abend vor dem Silvestergottesdienst kleinlaut nachfragt, wie lange Albrecht eigentlich für einen neuen Talar brauchen würde.

"Einmal ist einem Vikar drei Tage vor seinem Examensgottesdienst der Talar gerissen. Er hat gemeint, Don Camillo spielen zu müssen und schon hat sich sein Talar in der Fahrradkette verheddert", erzählt Albrecht. Er plaudert gern aus dem Nähkästchen. Dabei beugt er sich zu seinem Gegenüber, als ob es sonst keiner erfahren dürfe. "Es gibt ganz wenig, was noch nicht passiert ist", sagt er mit einem Blick auf die Leitz-Ordner in seinem Regal.

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