Utopischer Überschuss

Im Kampf gegen die Wohnungsnot boten Baugenossenschaften einst bewährte Konzepte. Historische Anlagen wie Salvisbergs Werkssiedlung Piesteritz bei Wittenberg vermitteln heute neue Impulse.

Bettina Maria Brosowsky
Drucken
Raumbildung mit minimaler Geste – die Gartenstadt Piesteritz bei Wittenberg von Otto Rudolf Salvisberg, 1915–1919. (Bild: Bernd Clemens / Euroluftbild / AKG)

Raumbildung mit minimaler Geste – die Gartenstadt Piesteritz bei Wittenberg von Otto Rudolf Salvisberg, 1915–1919. (Bild: Bernd Clemens / Euroluftbild / AKG)

Bezahlbare Wohnungen sind nicht nur in der Schweiz zum raren Gut geworden. Auch in vielen deutschen Grossstädten und wirtschaftlichen Ballungszentren fehlt es an preisgünstigem Wohnraum. Die Bundesarchitektenkammer zählt 770 000 fehlende Wohnungen und macht neben demografischen Faktoren – immer mehr Einpersonenhaushalte – den Rückzug des Bundes aus dem sozialen Wohnungsbau nach der Föderalismusreform verantwortlich. Seitdem wird das Grundbedürfnis Wohnen von den einzelnen Ländern bedient oder lieber gleich Investoren überlassen. Denn in vier Jahren werden Zuschüsse des Bundes vollständig eingestellt, sofern es keine Gesetzesrevision gibt. Dabei wären jährlich mindestens 60 000 Wohnungen für mittlere und 80 000 für untere Einkommen zu erstellen.

Bürgerschaftliche Wohnmodelle

Anderseits stehen in weniger begünstigten Landesteilen gut zwei Millionen Wohnungen und Eigenheime leer. Dazu kommen acht Millionen Quadratmeter ungenutzter Büroflächen in den 19 wichtigsten Wirtschaftszentren. Üppig sind zudem postindustrielle Gewerbebrachen und andere Konversionsareale verfügbar. Sie alle böten gut erschlossene Raum- und Flächenreserven. Allerdings gelten in der Immobilienbranche die klangvoll Refurbishment und Brownfields genannten Areale als wenig renditeträchtig.

Otto Rudolf Salvisberg (1882-1940). (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Otto Rudolf Salvisberg (1882-1940). (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Anders als es die statistischen Zahlenspiele glauben machen könnten, unterscheidet sich die gegenwärtige Wohnungsnot in Deutschland grundlegend von den beiden grossen Notständen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch erleben bürgerschaftliche Modelle zur Schaffung und Bewirtschaftung von Wohnraum, einst aus purer Not geboren, unter den Bedingungen eines hochspekulativen Wohnungsmarktes eine kleine Renaissance. Da feiern zum einen die auch in der Schweiz erfolgreichen Baugenossenschaften in teuren Städten wie München neue Erfolge. Dank Geldeinlagen der Mieter können die gemeinwohlorientierten Unternehmen, die keinen privatwirtschaftlichen Gewinn abschöpfen, auch schwierigere Projekte wie die Mischung aus Wohnen, Gewerbe, Kultur und Sozialem verwirklichen – und dies selbst in begehrten Wohnlagen wie etwa der Kalkbreite in Zürich.

Zum anderen ist da die Mitarbeiter- oder Werkswohnung. Auch sie ist ein Modell mit langer, weit ins 19. Jahrhundert zurückreichender Tradition. Doch heute käme wohl kein Konzern mehr auf die Idee, eine komplette Werkssiedlung mit über 3000 Wohnungen zu stiften, wie dies 1906 die Industriellengattin Margarethe Krupp in Essen tat. Diese Art der Daseinsvorsorge gilt als ideologisch überholt, die Wohnform vielleicht auch als zu bekenntnishaft proletarisch.

Dabei lohnt ein Blick auf die vielen städtebaulich, architektonisch und sozial vorbildlichen Siedlungen der jüngeren Baugeschichte – nun nicht, um aus ihrem Formenreichtum zu kopieren, sondern, um ihrer Qualität eines kleinmassstäblichen Wohnungsbaus im komplexen Quartiersgefüge nachzuspüren und für heutige Anforderungen produktiv zu erschliessen.

Piesteritz, Werkssiedlung, Sachsen-Anhalt. (Bild: Anja Steinmann für die Deutsche Wohnen AG)

Piesteritz, Werkssiedlung, Sachsen-Anhalt. (Bild: Anja Steinmann für die Deutsche Wohnen AG)

Ein Studienobjekt par excellence ist die Werkssiedlung Piesteritz, heute ein Stadtteil der Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Das Ensemble wurde im Wesentlichen zwischen 1915 und 1919 für vorrangig aus Bayern angeworbene Mitarbeiter eines Industriewerks errichtet, das Ende 1915 in Betrieb ging. Piesteritz hat den Zweiten Weltkrieg ohne Zerstörung überdauert, die grundsolide Bausubstanz auch die Mangelwirtschaft der DDR und ist bis heute, trotz Besitzerwechsel der letzten Jahre, eine Eigentumseinheit geblieben. Nie wurde sie zu Privateigentum parzelliert, die unweigerlich dann folgende individualisierende Entstellung blieb ihr erspart. Im Gegenteil: Eine ambitionierte denkmalgerechte Restaurierung um die Jahrtausendwende gab der Siedlung ihre bauzeitliche Homogenität zurück. Das charakteristisch gedämpfte Kolorit, die vielen handwerklichen Details, die harmonischen Strassenräume mit flachen Vorgärten und baumbestandenen Plätzen – alles ist wieder erlebbar, selbst wenn manch neuerlicher Eingriff bereits vonnöten wäre.

Architekt der aus 363 Wohnhäusern für etwa 2000 Bewohner bestehenden Siedlung war Otto Rudolf Salvisberg (1882–1940). In Köniz bei Bern geboren, lebte und arbeitete er nach seinem Diplom am Technikum Biel und Studien in München und Karlsruhe ab 1908 in Berlin, gründete dort 1914 sein eigenes Büro. Die Siedlung Piesteritz war sein erster Grossauftrag, gemeinsam mit seinem jüngeren Landsmann und Büropartner Otto Brechbühl (1889–1984).

Allerdings war Salvisberg kein Unbekannter. Er hatte es verstanden, unter vorherigen Arbeitgebern seine Miturheberschaft an vielen Realisierungen publik zu machen. Bereits im Jahr der Bürogründung widmete ihm der Berliner Kritiker Paul Westheim einen langen Artikel, würdigte frühere Arbeiten.

In Berlin baute Salvisberg bis etwa 1933, auch nach seinem Ruf 1930 an die ETH Zürich. Es waren vorrangig Villen und Siedlungshäuser, so in der Weissen Stadt, auch «Schweizer Viertel» genannt, von 1931. Julius Posener attestierte Salvisbergs Architektur zwei Wirkungen: «Sie stimuliere, und sie beruhige.»

Visionärer Impuls

Auf dem vorgegebenen Bebauungsplan entfaltete Salvisberg in Piesteritz ein traditionelles Formvokabular der Gartenstadt. Sie war die sozialreformerische Antwort auf die gesellschaftlichen und wohnhygienischen Missstände der frühindustriellen Stadt Englands. Das 13 Hektaren grosse Areal durchziehen zwei lange, unterschiedlich gekrümmte Strassen. Ihr Verlauf ist an keinem Punkt als Ganzes einsehbar und wird von einem Wechselspiel verschieden grosser Reihenhaustypen flankiert.

Den Schnittpunkt beider Strassen bildet ein dreieckiger Platz. Hier stehen, auch farblich abgesetzt, Häuser mit grosszügigen 160 Quadratmetern Wohnfläche, ehemals für die Betriebsleiter. Die Absicht sozialer Durchmischung, durchaus auch im Sinne einer sozialen Kontrolle, zeigt sich in weiteren Sondersituationen im Siedlungskontext: ein durch Stufen erhöhter Platz mit Häusern der Werkmeister, ein kleines Damenwohnheim für Ledige, in einen Wechsel zweier Krümmungsradien einspringend, die schützende Flanke an der Strasse nach Wittenberg mit grösseren Haustypen der Angestellten.

Jedem Haus ist rückwärtig ein individueller Nutzgarten zugeordnet, die einheitlich flach gehaltenen Vorgärten wirken als Erweiterung der ohnehin grosszügigen Strassenräume. Zum Komplettprogramm der eigenständigen Gemeinde gehörten eine Kaufhalle am zentralen Platz, in Sichtweite eine Schule, eine Apotheke, eine katholische Kirche und, etwas später, ein Rathaus.

Heute ist man nicht nur von der Schnelligkeit der damaligen Realisierung überrascht – schon eine sogenannte Projektentwicklung würde derzeit wohl länger dauern. Auch der utopische Überschuss in jedem konzeptionellen, räumlichen und handwerklichen Detail beflügelt. Wie war es möglich, mitten im Ersten Weltkrieg derartige Kraft zu entfalten und dem Mangel an Wohnraum so souverän zu begegnen? Wie weit entfernt erscheint sie vom Schlichtwohnen im Container-Look, das derzeit in Deutschland als Ultima Ratio beschworen wird!

Es geht nicht darum, sich an einer pittoresken Bodenständigkeit aus voluminösen, rot gedeckten Satteldächern, aus Fensterläden und Rankspalier ästhetisch zu laben – die Ära dieses Formenvokabulars ist vorbei –, sondern die elementare Raumkunst im Dienste einer humanen und robusten Baugestalt zu erkennen, die das würdevolle Behausen des menschlichen Individuums zu ihrer grossen, ästhetisch nachvollziehbaren Aufgabe machte. Dieser «geistige Gehalt» eines sozial programmierten Städtebaus, den Hermann Muthesius in seinen Schriften der 1920er Jahre stets einforderte und gerne mit Salvisbergs Siedlung Piesteritz belegte: Er ist nach wie vor Gradmesser und visionärer Impuls für existenzielle Fragen des Lebens und Wohnens – erst recht unter den gesicherten Bedingungen des 21. Jahrhunderts in Europa.