Wie viel Zukunft birgt die Vergangenheit?

Unter Evo Morales sucht Bolivien auf der Basis seiner vorkolonialen Vergangenheit ein neues kulturelles Selbstverständnis zu entwickeln. Die Gefahr dabei ist, dass man Projektionen aufsitzt.

Eva Fischer
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Indigene Menschen lassen sich ungern fotografieren – eine Aymara-Frau bedeckt ihr Gesicht. (Bild: Dado Galdieri / Laif)

Indigene Menschen lassen sich ungern fotografieren – eine Aymara-Frau bedeckt ihr Gesicht. (Bild: Dado Galdieri / Laif)

Rap heisst die rebellische Lyrik des Hip-Hop. Gerappt wird auch in Bolivien, und zwar vorwiegend auf Aymara. Wayna-Rap nennt sich dieser Sprechgesang, auf den inzwischen auch globalisierte Teenies gestossen sind. In der Stadt El Alto, dem von Kälte und Staub geprägten Ankunftsort ländlicher Migranten, rappen junge Männer und vereinzelt auch Frauen, in Ponchos gekleidet, zu einer Mischung aus Beats, Trommelschlägen und Flötentönen. Sie singen an gegen Neoliberalismus, Globalisierung, soziale Ausschliessung und gesellschaftliche Benachteiligung.

Es sind Schilderungen ihrer eigenen Lebenssituation, welche vielfach in Forderungen nach «wali qhamaña», dem «guten Leben», münden. Als ein per Verfassung allen bolivianischen Bürgern zugesicherter Anspruch (Artikel 8) steht dieses «gute Leben» für soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und materielle Grundversorgung. Der Begriff entstand aus der Gemengelage von Sozialreformen und idealisierenden Interpretationen der Vergangenheit durch indigene Politiker. Archäologen zeichnen im Kontrast dazu ein weniger sozialromantisch gefärbtes Bild vorkolonialer Gesellschaften – mit Arbeitszwang, Geiselhaft und Opferung der Kinder unliebsamer Untertanen.

Tupac als Widerstandsfigur

Wayna-Rapper nutzen Ikonen ethnisierter Identität, den kolonialzeitlichen Rebellenführer Túpac Katari, das «heilige» Kokablatt sowie die «tausendjährigen Bräuche der Ahnen», und verknüpfen diese mit den Anliegen der neuen sozialen Bewegungen. Ihre Sprache, das jahrhundertelang unterdrückte und in Bolivien dennoch nach wie vor von mehr als 1,5 Millionen Menschen gesprochene Aymara, wurde durch den Rap-Alteño (Höhenrap) zum generationenverbindenden Zeichen des Widerstandes gegen korrupte Amtsträger und den Ausverkauf nationaler Ressourcen. Die Übersetzung dieser Rap-Gesänge erlaubt Einblicke in die Gedankenwelt junger Menschen, die weitgehend in prekären Verhältnissen aufwachsen mussten: «Es sind Tausende, Tausende und Abertausende, / das Volk der Aymara mit dem Blut Túpac Kataris. / Diesen Namen schreiben wir an die Wände. / Brecht auf, ihr Aymara und Quechua. / Kraftvoll, kraftvoll kommen sie.»

Der Text bezieht sich auf die dem Aymara-Rebellen Túpac Katari (exekutiert am 15. Dezember 1781) zugeschriebenen letzten Worte, mit denen er seine Wiederkehr und Rache an den Spaniern ankündigte. Die jugendlichen Sänger sehen sich als seine modernen Vertreter. Unter ihren Vorbildern befindet sich auch der 1996 verstorbene afroamerikanische Rapper Tupac Shakur. Durch ihn wird Tupac, eigentlich ein inkaischer Herrschertitel, endgültig zum globalen Zeichen für Rebellion und Widerstand erhoben.

Identitätsfindung ist nicht nur für Jugendliche eine Herausforderung, sondern auch für Staaten, insbesondere auch, wenn sie ihre Verfassung geändert haben. So führt Bolivien seit 2009 den Zusatz «plurinationaler Staat» in seinem Namen, ein Hinweis auf die regionalspezifische (andine) Form des Sozialismus, welcher auf Diversität statt Gleichschaltung setzt. 36 Amtssprachen werden den indigenen Gruppen in der Verfassung zugesichert. Das Konzept setzt Sprache, Kultur und Indigenität gleich. Wie jedoch am Beispiel des Wayna-Rap ersichtlich wird, entsteht Kultur keinesfalls als naturgegebene Folge gemeinsamer Abstammung, sondern aus Konsens, sozialer Interaktion und geteilter Erinnerung.

In der globalisierten Welt behaupten sich indigene Kulturen indes in der Regel nur, wenn ihre unverwechselbare Einmaligkeit zum Markenzeichen wird. An diesem Punkt setzt nicht nur die Unesco mit dem Konzept des immateriellen Kulturerbes, sondern auch die nationale bolivianische Kulturpolitik an. Deren Ziel ist es, Folklore und Tourismus zu forcieren. So verfügt Bolivien denn über ein Kultur- und Tourismusministerium mit Unterabteilungen für Dekolonisierung und Interkulturalität.

Armut und ein niederer Sozialstatus bildeten bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts eine verhängnisvolle Einheit für die schonungslose Ausbeutung indigener Arbeitskräfte. In den siebziger Jahren jedoch wurde Indigenität zum Identifikationsmerkmal politischer Aktivisten im Kampf gegen alteingesessene Eliten und verkrustete Machtstrukturen. Was um 1990 als Stärkung der konservativen Nationalrevolutionären Partei (Movimiento Nacional Revolucionario, MNR) und gestützt auf die Wählerstimmen der indigenen Bevölkerungsmehrheit begann, beförderte schliesslich das politische Projekt der Linkspartei Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS). Ethnisierungstendenzen und soziale Bewegungen verschmolzen endgültig miteinander.

Gleichzeitig heizten zwei Umfrageresultate von 2001 den Ethnisierungsprozess an: die Eigendefinition von 60 Prozent der bolivianischen Bevölkerung als indigen und die geringe Anzahl dieser Kategorie bei den 15-Jährigen. Als Fördermassnahmen wurde ab 2007 der Schulunterricht in den Lokalsprachen intensiviert und Spanisch in ländlichen Gebieten als Literaturfach ohne Grammatik unterrichtet. Die Schüler der Deutschen Schule in La Paz hingegen büffeln seither einmal pro Woche Aymara. Auch viele Schilder im öffentlichen Raum wurden auf Aymara übersetzt – ein anspruchsvolles Unterfangen, da eine im bäuerlichen Kontext gewachsene Sprache plötzlich Worte wie «Bibliothek», «Hörsaal» oder «Mittelstation» (bei der Stadtseilbahn in La Paz) hervorbringen musste.

Tradition als Alternative

Eine neue Erhebung von 2012 weist andere Tendenzen auf als die von der Regierungspartei angepeilten. Die Kategorie der sich als indigen definierenden über 15-jährigen Bevölkerung war von 60 Prozent auf 40 Prozent geschrumpft. Der Verlust von 20 Prozent kann durchaus als Absage der Bolivianer an politisch gelenkte Stereotypisierungen ihrer Identitäten gewertet werden. Dagegen nutzten kleine lokale Gruppen die Kategorie indigen zur Stärkung ihrer politischen Position. Ein Beispiel hierfür sind die Jäger- und Sammlergruppen der Dschungelregion Tipnis, die sich gegen kolonisierende Koka-Bauern aus dem Hochland und ein ehrgeiziges Strassenprojekt der bolivianischen Regierung zur Wehr setzen.

Dekolonisierung heisst das Programm, welches durch die Regierung vorangetrieben wird. Traditionelle ländliche Lebensweisen sollen Gegenentwürfe zur bis anhin einer schmalen Elite vorbehaltenen spanisch-europäischen Norm liefern. Das angepeilte Zukunftsmodell beruht auf spezifischen Auslegungen der Vergangenheit und soll Schutz vor den Entfremdungsmechanismen der globalisierten Gegenwart bieten.

Das Vorhaben ist so ambitiös wie widersprüchlich: Wissen und Symbole der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sollen in der plurinationalen Gesellschaft konserviert und zukunftstauglich gemacht werden. Traditionen verändern sich jedoch bereits durch Reflexionen, welche Menschen über sie anstellen. Im Globalisierungsprozess werden Traditionen und Kulturen schliesslich zur Ware, zum folkloristischen Markenprodukt mit emotionalem Mehrwert für Produzenten und Konsumenten. Experten sprechen von Ethnisierung, Selbstessenzialisierung und der Neuinterpretation bzw. -erfindung der Tradition.

Viele MAS-Politiker betrachten individuelle Lebensstile und Handlungsweisen als Auswüchse westlicher Werte und Symptome «neoliberaler Einflüsse». Als Gegenstrategie propagierten sie Gemeinsamkeit, Kooperation, gegenseitige Anerkennung und die Vermeidung von Wettbewerb. Diese Sichtweise ignoriert, dass in den bäuerlichen Gemeinschaften, von denen man diese Konzepte übernommen zu haben glaubt, individuelles Handeln durchaus üblich ist. Kommunitaristische Tugenden können nicht verordnet werden, sondern sind in jedem Gemeinwesen die Folge enger verwandtschaftlicher Beziehungen und geteilter Interessen. Das Ausschalten individueller Reflexion führt zur Gleichschaltung von Meinungen und Handlungen. Ein Beispiel dafür sind die in manchen Dorfgemeinschaften gefassten Beschlüsse zu Saat-Terminen und Feldfruchtarten in Zeiten veränderter meteorologischer Bedingungen. Individuelle Entscheidungen, auch wenn sie sich nachträglich als richtig erweisen, werden als Abweichungen von den als traditionell definierten Normen betrachtet und bekämpft.

Die neue bolivianische Verfassung garantiert den indigenen Nationen die «Umsetzung ihrer politischen, rechtlichen und ökonomischen Systeme gemäss ihrer Kosmovision» (Kapitel 4, Artikel 30, Absatz 14). Genauere Definitionen, beispielsweise zu Reichweiten und Überschneidungen von Gewohnheitsrecht und staatlichem Recht, wurden nicht vorgenommen. Zudem sicherte sich der plurinationale Staat die Rechte zur Ausbeutung von Naturressourcen und den Infrastrukturausbau. In der Folge wurden die Landrechte zum Leitthema wissenschaftlicher Abhandlungen und der Sprachwissenschafter Felix Layme zum landesweit gefragten Mann. Mit Quellenarbeit vertraut, hilft er einsprachigen Aymara und Quechua, ihre Familiendokumente in Archiven aufzustöbern und für Landansprüche auszuwerten.

Das bolivianische Strafrecht hingegen blieb bisher unreformiert. Leichte Vergehen, aber auch Lynchjustiz und andere schwere Verbrechen blieben vielfach ungeahndet. Nun wird jedoch das Justizsystem in einer ersten Etappe mithilfe der EU bis 2016 reformiert. Auf dem Programm stehen der erleichterte Zugang zu den Rechtsinstitutionen, die Aus- und Weiterbildung von Richtern und Beamten sowie die Bekämpfung der Korruption. Inhaltliche Veränderungen sind allein Sache der bolivianischen Seite. Die Bolivianer werden per Referendum über die Durchführung dieser Justizreform abstimmen. Es ist demnach nur eine Frage der Zeit, bis über die Einbindung von Gewohnheitsrecht und traditionellen Konzepten in das bolivianische Rechtssystem verhandelt werden muss.

Kulturelle Vielfalt ist in Bolivien, dem Lebensraum unterschiedlichster lokaler Gruppen, seit der Staatsgründung ein Spiegel der inneren Verhältnisse. Findet das Zusammenleben als reflektierende Übersetzungsleistung statt, werden Kunst und Wissenschaft zu politischen Mittlern. Ist dies nicht der Fall, entstehen statische Sichtweisen der Vergangenheit. Traditionen werden zu politischen Argumenten, sind nicht mehr Resultat des gesellschaftlichen Konsenses, sondern dessen Ursache. Sie erscheinen als unveränderlich, ursprünglich und formen eine vergangenheitsorientierte Sicht der Gegenwart. Der eingangs erwähnte Wayna-Rap durchbricht bereits dieses Schema, indem er traditionsgebundene Inhalte in einer neuen Form vermittelt. Sobald über Inhalte und Vermittlungsformen nachgedacht wird, eröffnen sich neue Wege für den behutsamen Umgang mit dem kulturellen Erbe und dessen Nutzung als identitätsstiftendes Element, als Antwort auf Veränderung.

Lokales Musikwissen zum Beispiel

Ein Beispiel dafür ist das von Sergio Prudencio geleitete Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN), welches bald 35 Jahre alt ist. Als kollektiv organisierter Klangkörper interpretiert es traditionelle Musik und erforscht und pflegt lokales Musikwissen. Es gehört zu seinen Zielen, dieses zu erhalten, bekannte Stücke neu zu interpretieren sowie Talente zu fördern. Der Direktor des Jugendorchesters, Carlos Gutiérrez, erklärt, dass in La Paz sieben Musikgruppen bestehen, in denen junge Menschen nicht nur andine Instrumente spielen und deren Klang verfeinernd nutzen lernen, sondern auch Musikforschung betreiben. In entlegenen Dörfern sprechen sie mit wissenden Alten, jungen Lernenden und passionierten Musikern. Sie setzen direkt an der Basis lokaler Musiken an, dokumentieren und analysieren diese, um in Workshops den Dorfgemeinschaften erhalten zu helfen, was durch die Auswirkungen der Globalisierung verloren zu gehen droht.

Eine weitere Vertreterin des interpretierend-vermittelnden Ansatzes und der kreativen Umsetzung andinen Wissens ist die bolivianische Malerin Elvira Espejo. Nicht bereit, ihre traditionelle Kleidung, bestehend aus weitem Jupe, Bluse, Strickjacke und Schultertuch, abzulegen, erfindet sie diese – mittlerweile ihr Markenzeichen – mit unterschiedlichsten Materialien immer wieder neu. Als erste Studierende aus einer Dorfgemeinschaft schloss sie auf der Kunstakademie in La Paz das Studium der Malerei ab. Seit 2013 amtet die mehrfach Begabte, die andines Weben als wissenschaftliche Tätigkeit und Textilien als Objekte inhärenter mathematischer Logik erklärt, als Direktorin des Museo de Etnografía y Folklore. In dieser Funktion gestaltet sie eindrückliche und pädagogisch präzis durchdachte Ausstellungen, die nicht nur von der Bildungselite, sondern von allen Bevölkerungsschichten gut besucht sind.

Keine Illusionen

Wahlen sind ein wichtiger Prüfstein für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Bolivien wurde diesbezüglich in den vergangenen sechs Monaten zweimal getestet. Am 14. Oktober 2014 bei der Präsidentschaftswahl, in der Evo Morales nach Anpassung der Gesetze für eine dritte Amtsperiode bestätigt wurde, und bei den Departements- und Gemeindewahlen am 29. März 2015. Bei Letzteren wurden gemäss der Tageszeitung «Página Siete» in einigen Wahlsprengeln der Städte La Paz und El Alto Differenzen (in zweistelliger Tausenderhöhe) zwischen der Anzahl der im Wahlregister eingetragenen Personen und dem abgegebenen Stimmenmehr festgestellt.

Boliviens Weg zum demokratischen Rechtsstaat erfordert die Überwindung vieler Hürden. Die körperlichen Auswirkungen extremer Armut werden dem Gesundheitssystem noch viele Jahre zu schaffen machen. Vor diesem Hintergrund erscheinen Bildung, Wissenserwerb und Reflexion der Vergangenheit besonders wichtig für positive Veränderung. Dafür die vielzitierte «Hegemonie des bolivianischen Volkes» zu bemühen, erscheint nicht nur illusorisch, sondern vollkommen unrealistisch. Nur der nachdenkliche Umgang mit Vergangenheit und traditionellem Wissen kann Bolivianern zu einem eigenen Selbstverständnis verhelfen, eine grundlegende Voraussetzung für die Ausbildung einer starken Bürgergesellschaft, die Hegemonien aufbricht, ohne neue zu bilden.

Dr. Eva Fischer forscht mit Schwerpunkt Lateinamerika (besonders die Andenregionen) und Europa am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern.