Der gelangweilte Affe

Wir langweilen uns in Gesellschaft oder vor dem Fernseher. Was aber Langeweile wirklich bedeutet, haben wir seit Kindheitstagen vergessen.

Roman Bucheli
Drucken
Nur Kinder kennen die wahren Dämonen der Langeweile, wenn sie sinnlos und zweckfrei in der Welt stehen und niemand etwas von ihnen will. (Bild: Meyer / Tendance Floue)

Nur Kinder kennen die wahren Dämonen der Langeweile, wenn sie sinnlos und zweckfrei in der Welt stehen und niemand etwas von ihnen will. (Bild: Meyer / Tendance Floue)

«Wenn die Affen Langeweile hätten, so würden sie Menschen werden.» Es gehört zu den pikanteren der vielen Kränkungen, die uns die Aufklärung beigebracht hat, dass es, wenn wir Claude Adrien Helvétius glauben wollen, gerade eine Schwäche der Seele und des Gemüts sein soll, die uns vom Affen unterscheidet. Seit es eine Vorstellung und einen Begriff der Langeweile gibt, seit sie in vor- und erst recht in frühchristlicher Zeit als Mittagsdämon bezeichnet und in Verruf gebracht wurde, gilt diese Trägheit des Herzens als Übel: Denn die Müdigkeit des Mönchs in der schläfrigen Mittagsstunde ist das Einfallstor der Sünde, mit dem Dämon der Daseinsleere kommt die Versuchung über ihn, der inneren Einkehr zu entfliehen und den Lärm der Welt zu suchen.

Mutter des Nichts

Seither gab es stets mehr Verächter als Verfechter der Langeweile. Wenn Giacomo Leopardi unter dem 30. September 1821 notiert hatte, dass die Langeweile die unfruchtbarste aller menschlichen Leidenschaften sei, weil sie «nicht nur eine Tochter der Nichtigkeit, sondern gleichzeitig Mutter des Nichts» sei, so nahm er damit einer ganzen Denkrichtung von Kierkegaard bis Cioran das Stichwort vorweg. Dass die Moderne des sich selbst fremd gewordenen Menschen darin geradezu ihre existenzielle Grundstimmung erkennen konnte, gehörte zur Ironie dieser Diskreditierung: Je stärker der beschleunigte Mensch das Gefühl der Leere empfinden musste, umso resoluter galt es Abhilfe zu schaffen und Remedur zu suchen – mit dem freilich prekären Ergebnis, dass die Gefahr nun hinterrücks nur umso vehementer drohte.

Pascal bedauerte bereits in seinen «Pensées», dass den Menschen das Vermögen verloren gegangen sei, Leere, Stille und Abgeschiedenheit auszuhalten, ja, er sah darin die Ursache allen menschlichen Unglücks: «J'ai dit souvent que tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos dans une chambre.» Allein, dieses Unglück habe seine natürliche Ursache in unserer schwachen und sterblichen Beschaffenheit, schreibt Pascal: Nur Zerstreuung würde uns vor dem Gedanken an den Tod bewahren.

An solcher Ambivalenz mochte drei Jahrhunderte später Walter Benjamin anknüpfen. In seinem berühmten Aufsatz «Der Erzähler» heisst es: «Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.» Doch wovon spricht Benjamin, wenn er Langeweile sagt und damit jene schwebende Aufmerksamkeit meint, die Erfahrung auf geheimen Wegen in Erzählung und Poesie verwandelt? Er bleibt, wie häufig, im metaphorischen Ungefähr. «Die Tätigkeiten, die sich innig der Langeweile verbinden», seien in den Städten schon ausgestorben und würden auch auf dem Lande verfallen.

Seltsam genug, dass Benjamin von «Tätigkeiten» spricht, aber wie Pascal erzählt auch er von einer Verfallsgeschichte. Das Zimmer der Einkehr gibt es nicht mehr, in den Städten so wenig wie auf dem Lande, in Pascals 17. so wenig wie in Benjamins 20. Jahrhundert. Geschweige denn in unseren Zeiten. Tatsächlich? Aber die Langeweile sucht uns doch heim wie eh und je. Hatte uns nicht jenes Buch oder jener Film gelangweilt? Und von vielerlei, von zu vielen Tätigkeiten wüssten wir zu sagen, sie verbinden sich «innig der Langeweile». Solches kann daher nicht gemeint sein. Die wahre Langeweile haben wir auch darum so gründlich verlernt, weil wir sie allein als Kinder erleben konnten und weil noch in der Erinnerung das dabei empfundene namenlose Unbehagen als Schrecken fortlebt.

Nie haben wir uns als Kinder verlorener gefühlt als an den trägen Sommernachmittagen, mitten in den Ferien, wenn nichts zu tun und nichts zu fürchten war, wenn die Zeit mit der sonnenheissen Luft stillstand zwischen den Häusern und Bäumen, wenn als Tonspur das Gurren der ebenso blöd und lustlos herumhockenden Tauben unsere Nachmittage begleitete: Dann erschreckte uns der Mittagsdämon. Die Leere des Herzens schlug in Beklemmung um, die Tage lagen brach und wir in ihnen. Nie wieder war unser Dasein so sinnfrei und zwecklos. Niemand hätte uns sagen können (und am wenigsten wir selber), wozu wir auf der Welt waren. Niemand wollte etwas von uns, und wir wussten nicht, was wir wollten. Es war das Paradies, das uns wie die Hölle vorkam.

Kein Weg führt dahin zurück. Denn «der Fleiss und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert», wie es bei Friedrich Schlegel heisst, die dem Menschen die Rückkehr in dieses Paradies der Untätigkeit verwehren. Nicht umsonst ist es von allen Kindheitsempfindungen, an die Roland Barthes sich erinnert, die Langeweile, die ihn wie kaum eine andere weiterhin bedrängt und gleichermassen fasziniert, da sie ihn, den Erwachsenen, unmittelbar mit der Kindheit verbindet. Er lese im Kind, so schreibt Barthes, «offenen Körpers die schwarze Kehrseite meiner selbst, die Langeweile, die Verletzbarkeit [. . .], die innere Gemütserregung, die zu ihrem Unglück von allem Ausdruck abgeschnitten ist». Erstaunlicherweise geht Barthes nicht weiter auf die Vorstellung einer «von allem Ausdruck abgeschnittenen» Empfindung ein. Der Schriftsteller muss darin die grösstmögliche Zumutung erkennen, die Namenlosigkeit der inneren vibrierenden Erstarrung hätte ihm indessen auch als ein Glück der Freiheit und der Unverbundenheit dessen erscheinen können, was noch in kein System und in keine Nomenklatur eingebaut und eingesperrt ist.

Hiesse wahre Lebenskunst darum, sich noch einmal der Schwerkraft der Langeweile hingeben zu können? Noch einmal so leer und zwecklos und wortlos werden und im Gurren der Tauben an einem Sommertag das quälend foppende Gegenstück erkennen des eigenen Unvermögens, die Taubheit des Herzens in Worte zu fassen? Nichts jedoch führt an dem Widerspruch vorbei, dass heute jene Empfindung das Glück verheissen soll, die uns als Kinder einst ins namenlose Elend stürzte. Vielleicht wohnt tatsächlich die Erfüllung so nah bei der Leere. Aber gedankenleer gelangweilt wie Kinder werden wir nicht noch einmal an einem Wiesenbord sitzen und die Waggons der stündlich vorüberfahrenden Güterzüge zählen.

Solche brachliegende Zeit findet ihr schönstes Abbild vielleicht noch in einem Typus Brachland, der in hiesigen Breitengraden, wo selbst die Ausgleichsfläche gewinnbringend bewirtschaftet wird, kaum mehr anzutreffen ist. Ich meine herrenloses, verwildertes Land, wo die Natur sich in nackter Rohheit und undurchdringlich ausbreitet. Eine Qual fürs Auge und schmerzhaft für jeden, der sich dahinein begibt, sind solche Grundstücke, ob in der Stadt oder in der Abgeschiedenheit, eine Provokation und ein Ärgernis. Und trotzdem rufen sie in Erinnerung, dass der Natur eine Gewalt innewohnt, die sie zur Anarchie, zur Unordnung und zur Wildheit treibt, wo Gestaltungswille, Ordnungswut oder Nutzenmaximierung ausbleiben.

Ein Refugium des Mittagsdämons

Der Langeweile am nächsten käme vielleicht ein Denken oder vielmehr Empfinden, das solchem Brachland ähnlich würde. Da fände der Mittagsdämon sein Refugium, aus dem er – zur bekannten Unzeit daraus hervorschiessend – in mancherlei Versuchung zu locken vermöchte. In der Unordnung der Gedanken, geradezu verloren in dem wild wuchernden Empfinden und Denken, wo alles weder Namen noch Gestalt hat und gleichermassen sinn- wie zwecklos ist: Hier mag noch einmal von ferne ein Wetterleuchten aus der Kindheit Schrecken und Zauber der toten Zeit an einem Sommernachmittag heraufrufen. Vielleicht ahnte das Kind, dass die Schatten und Dämonen, die es bedrängten, Vorboten einer anderen Erfahrung waren, und ertrug darum die öden Stunden mit Gleichmut. Und vielleicht findet der Erwachsene im Taumel der Leere von einst, wovon ihm eine bald bedrückende, bald erregende Erinnerung geblieben ist, die Ermutigung zu einer Begegnung mit der Welt und sich selbst, die noch ganz ausserhalb von Sinn und Zweck steht. Er müsste nur gelegentlich durch die Wildheit der Brache gehen – und lernte hier das Denken und Empfinden vielleicht nicht neu, aber noch einmal anders.