Neuartiger Eingriff mit dem Katheter im Gehirn könnte viele Patienten vor einer schweren Behinderung bewahren

„Wie heißen Sie?“, fragt der Arzt Tudor Jovin den Mann im Flur der Universitätsklinik Pittsburgh. Der Patient hatte gerade einen Schlaganfall und liegt auf einer Trage. Er will antworten, bewegt Hände und Lippen, bleibt aber stumm. Einige Stunden nach der sofort eingeleiteten Behandlung kann Joseph Keteles wieder reden. Drei Tage danach erzählt er über die Begegnung im Flur: „Ich konnte die Wörter sehen, aber ich konnte sie nicht sprechen.“ Nichts deutet mehr darauf hin, dass er einen schweren Schlaganfall erlitten hatte.

Die Szenen stammen aus einem Video, das das Krankenhaus auf YouTube gestellt hat. Die Geschichte des Mannes mag eine gute Werbung für die Klinik sein, ein Einzelfall ist sie nicht. Das zeigen die Ergebnisse von zwei großen Studien, die gerade im renommierten „New England Journal of Medicine“ erschienen sind und am gleichen Tag auf einem Schlaganfallkongress in Glasgow vorgestellt wurden. „Das war eindeutig das bestimmende Thema der Konferenz“, sagt Professor Hans-Christoph Diener von der Uniklinik Essen, Co-Autor der sogenannten Swift-Prime-Studie. „Die Leute haben während der Vorträge applaudiert, das passiert nicht oft.“

Mehrere erfolgreiche Studien

Der Grund für die Euphorie: Gemeinsam mit drei weiteren großen Untersuchungen, ebenfalls in den letzten Monaten im „NEJM“ vorgestellt, zeigen die beiden Studien klar, dass die sogenannte endovaskuläre Therapie viele Schlaganfallpatienten vor dauerhaften Behinderungen bewahren kann. „Mit jeder positiven Studie ist es noch sicherer, dass wir die Schlaganfalltherapie auf ein neues Niveau heben können“, erläutert Diener, der auch Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie ist. „Wir stehen an der Schwelle zu einer Revolution bei der Akuttherapie des Schlaganfalls“, ergänzt Tudor Jovin, der an beiden Studien mitwirkte.

In Deutschland erleiden jährlich etwa 260.000 Menschen einen „ischämischen“ Schlaganfall. Dabei verschließt ein Blutgerinnsel ein Gefäß im Gehirn, die unterbrochene Blutversorgung lässt Nervenzellen absterben. Etwa jeder dritte Patient bleibt danach behindert, etwa in Form von Lähmungen oder Sprachproblemen. Um das Gefäß wieder zu öffnen, setzen Mediziner bisher darauf, das Gerinnsel (Thrombus) durch Medikamente zu lösen. Doch gerade bei Verschlüssen großer Blutgefäße, die große Hirnareale versorgen, reicht diese Thrombolyse meist nicht. In diesen Fällen, bei den großen Schlagadern im vorderen Hirnkreislauf, kann zusätzlich ein Eingriff mit einem sogenannten Stent Retriever entscheidend helfen, wie die Studien nun zeigen.

Bei dem Eingriff, der meist etwa 30 bis 45 Minuten dauert, schiebt ein Neuroradiologe einen Mikrokatheter von der Leiste durch die Aorta bis in das betroffene Blutgefäß und sticht dann durch das Gerinnsel hindurch, wobei er das Vorgehen auf einem Monitor verfolgt. Zieht er nun die Hülle des Mikrokatheters zurück, entfaltet sich aus dem Inneren ein Geflecht aus feinstem Draht nach außen und verhakt sich am Thrombus. Nun kann der Mediziner den Blutpfropf durch das Gefäß zurückziehen und aus dem Körper entfernen.

Wenn alles gut geht, wird das Hirngewebe danach wieder durchblutet. „Es ist ein Rennen gegen die Zeit“, erläutert Jovin. „Je früher man den Blutfluss im Gehirn wiederherstellt, desto mehr Gehirn rettet man und desto höher ist die Chance für einen guten Ausgang.“

Bei der Swift-Prime-Studie erhielten 196 Patienten per Losentscheid entweder die traditionelle Thrombolyse oder zusätzlich bis maximal sechs Stunden nach Beginn der Symptome den Kathetereingriff. Mit dieser Kombination waren nach 90 Tagen 60 Prozent der Patienten ohne Beeinträchtigung, bei herkömmlicher Therapie waren es nur 35 Prozent. Die Rate der Nebenwirkungen unterschied sich kaum von der der bisherigen Standardtherapie, der Thrombolyse. „Es gibt kein Sicherheitsproblem“, sagt der Neuroradiologe Professor Jens Fiehler vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Für das Verfahren infrage kommen laut Fiehler in Deutschland jährlich etwa 20.000 Patienten mit ischämischem Schlaganfall. Gerade jene Patienten profitieren, bei denen große Hirngefäße verstopft sind und denen daher besonders schwere Behinderungen drohen. Abgeklärt wird der Verdacht durch eine computertomografische Gefäßdurchleuchtung (CT-Angiografie). 60 der rund 260 deutschen Schlaganfallzentren (Stroke Units) sind gerüstet für die neue Therapie. Patienten aus kleineren Kliniken müssten unter laufender Thrombolyse möglichst schnell in solch ein Zentrum gebracht werden. An der Swift-Prime-Studie wirkten nur große Zentren mit. Nach der Bestätigung des Verdachts durch CT-Angiografie dauerte es dort im Mittel 57 Minuten, bis der Kathetereingriff begann. Bei 88 Prozent der Patienten wurde wieder eine substanzielle Durchblutung erreicht.

Neue Leitlinie für Neurologen

Professor Joachim Röther von der Asklepios-Klinik Altona weist daraufhin, dass die Therapie bereits in die Leitlinien zur Schlaganfalltherapie aufgenommen wurde. „Die Datenlage ist so überzeugend“, sagt der Neurologe, „dass es keiner langen Diskussionen bedurfte“. Nach Gesamtlage der Studien müsse man etwa vier bis sechs Patienten behandeln, um einem Patienten ein unabhängiges Leben zu ermöglichen, sagt Röther. „In der Medizin ist das ein unglaublich gutes Ergebnis.“

Das Verfahren rechnet sich auch für das Gesundheitswesen: Zwar ist der Eingriff kostspielig, „aber damit kann man einen Patienten davor bewahren, lebenslang bettlägerig und pflegebedürftig zu sein“, sagt Fiehler.