Es ist der helle Wahnsinn. Mitten im vertrackten Bürogespräch klingelt ein Handy, Kollege A sagt noch schnell: »Oh, leider wichtig, Augenblick mal bitte – Ja? Ich bin gerade in einer Besprechung, kann ich zurückrufen? Ach so, worum geht’s denn?« Frau B liest derweil die vier neuesten SMS-Nachrichten und beantwortet die zwei eiligsten, während Kollege A, dank Call-Waiting, in seinem Unterbrecher-Anruf unterbrochen wird: »Moment mal – ja, guten Tag, ich bin gerade auf der anderen Leitung, ich melde mich nachher, doch, ja, ganz bestimmt«; das Schreibtischtelefon klingelt, der Anrufbeantworter muss ran; vom Computer dringen unterdessen glockenhelle Ping-Laute herüber, eintreffende E-Mails verkündend. Wo waren wir stehen geblieben? BILD

Vor zehn Jahren noch hätte man eine solche Szene für die satirische Erfindung eines Handy-Hassers halten können. Inzwischen ist es völlig normal, den Tag so oder so ähnlich zu verbringen, im Büro und anderswo: ununterbrochen unterbrochen.

Unsere Kanzlerin regiert so: »Das Lagezentrum schickt ihr alle drei bis fünf Minuten eine Nachricht«, berichtete vergangene Woche der Spiegel. »Kürzlich im Bundestag legte sie das Handy in die Schublade vor sich, als wollte sie der Nachrichtenflut entkommen. Sie hielt das eine Viertelstunde aus, dann guckte sie nach.«

Bevor gleich wieder was dazwischen kommt: Wir haben es mit einem sehr grundsätzlichen Problem zu tun, so allgegenwärtig, dass man es glatt übersehen könnte. Vor lauter Unterbrechungen gibt die Menschheit bald den Geist auf. Wissenschaftler am Londoner King’s College wollten voriges Jahr herausfinden, wie leistungsfähig die Empfänger hereinströmender E-Mails sind. Zum Vergleich verabreichten sie einer Kontrollgruppe Marihuana und stellten beiden Gruppen dieselben mittelschweren Aufgaben. Die Kiffer schnitten besser ab. (Wenn auch dramatisch schlechter als Nüchterne ohne E-Mails.)

Nie gab es so viele Unterbrechungen wie heute, eine logische Folge der Vernetzung durch Internet und Mobilfunk. Seit alle allen jederzeit etwas mitteilen können, tun sie es auch. Unterdessen verschwinden die letzten Bastionen der Unerreichbarkeit. Die Funknetze weisen immer weniger weiße Flecken auf, die ersten Fluglinien wollen den Handybetrieb demnächst auch im Himmel zulassen.

Noch in den neunziger Jahren wurde das Unterbrechungsproblem vor allem als individuelles Wehwehchen oder auch Versagen abgetan, dem jeder mit ein bisschen Disziplin und ein paar elementaren Managementtechniken beikommen könnte. Mehr Konzentration »aufs Wesentliche« empfahl ein Selbsthilfebuch nach dem anderen, hin und wieder mal das Handy abschalten, dann wird das schon. Es wurde aber nicht. Es kam immer irgendetwas dazwischen.

Und so stiegen die Unterbrechungen in den letzten fünf Jahren auf zu einem wissenschaftlich anerkannten Grundübel der modernen Welt. Mit eiserner Konzentration widmen sich Psychologen, Programmierer und Designer der Aufgabe, das Wesen und Wirken der Unterbrechungen zu durchleuchten, einzudämmen, womöglich in den Griff zu kriegen. Zu diesem Zweck veranstalten sie Symposien und Konferenzen, publizieren Studien und Zeitschriftenartikel in ständig steigender Zahl. Am eifrigsten geschieht dies dort, wo die Unterbrecherei schon die fürchterlichsten Ausmaße erreicht hat, in den USA. Einer permanent abgelenkten Öffentlichkeit liefern sie schockierende Zahlen.