ZEIT ONLINE: Herr Kwirikaschwili, Georgien orientiert sich nach Westen, aber die EU ist schwach, in Amerika wird Donald Trump der künftige Präsident. Machen Sie sich Sorgen?

Giorgi Kwirikaschwili: Wir haben die Unterstützung durch den Kongress und den Senat. Beide haben sich wiederholt für die territoriale Integrität Georgiens ausgesprochen. Das ist entscheidend für uns. Deshalb erwarten wir keine großen strategischen Veränderungen, was die amerikanische Rolle in unserer Region angeht.

ZEIT ONLINE: Keine Befürchtung, dass Ihr Wunsch nach einem Nato-Beitritt nun zum Erliegen kommt?

Kwirikaschwili: Überhaupt nicht. Wir unterstützen die Nato substanziell. Unsere Entscheidung ist unumkehrbar: Wir wollen näher an eine Mitgliedschaft sowohl in der Nato als auch in der EU heranrücken. Zwar hat es einige Verzögerungen wie bei der Visaliberalisierung gegeben, das war zweifelsohne enttäuschend, aber ich sollte auch sagen, dass unsere Freunde in Brüssel immer alles tun, um die Prozesse voranzubringen.

ZEIT ONLINE: Die Visaliberalisierung für Georgien wurde nicht zuletzt durch die deutsche Politik verzögert, auch nachdem in den Medien ein Bild von Georgien als einem Land der Diebe und Gauner verbreitet wurde.

Kwirikaschwili: Natürlich waren diese Berichte sehr schmerzhaft. Die Fakten waren verzerrt, die Zahlen durch keine Statistik belegt. Doch die Wahrnehmungen sind nun mal da und in der Politik tut man gut daran, Wahrnehmungen ernst zu nehmen. Deshalb haben wir einen Polizeiattaché in die georgische Botschaft nach Berlin entsandt, unsere Sicherheitskräfte arbeiten heute auf allen Ebenen sehr eng zusammen, der georgische Innenminister war mehrfach in Deutschland und hat über dieses Thema gesprochen. Politisch streben wir als Nächstes eine strategische Kooperation mit Deutschland an. Das setzt voraus, dass wir auf solche Wahrnehmungen eingehen.

ZEIT ONLINE: Georgische Truppen beteiligen sich in Afghanistan und an der schnellen Eingreiftruppe der Nato. Sie haben die Anforderungen der EU erfüllt und trotzdem warten Sie noch immer auf die Visaliberalisierung. Wird Ihre Liebe zum Westen erwidert? 

Kwirikaschwili: Die Reformen dienen ja nicht nur dazu, EU- und Nato-Mitglied zu werden. Wir wollen Georgien zu einem anderen Land machen und den Lebensstandard in Georgien heben. Der Prozess ist noch wichtiger als das Ziel.

ZEIT ONLINE: Wie bitte dient Ihr Engagement in der Nato einem höheren Lebensstandard in Georgien?

Kwirikaschwili: Wir verbessern unsere Verteidigungsstruktur. Die Sicherheit ist in Georgien eine der wesentlichen Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum und ausländische Investitionen. Die Unterstützung der westlichen Länder für Georgien ist zudem wichtig, um die Ambitionen Russlands in der Region einzudämmen. 

ZEIT ONLINE: Welche Ambitionen hat Russland Ihrer Meinung nach in der Region?

Kwirikaschwili: Georgien hat zwar eine komplizierte Geschichte mit Abchasien und Südossetien, aber hinter dem Konflikt steckt auch eine enorme russische Einmischung. Gerade in diesen Wochen werden wir erneut Zeuge davon, wie unterschiedliche Abkommen geschlossen werden, die Abchasien und Südossetien …

ZEIT ONLINE: … georgische Regionen, die seit 2008 von Russland besetzt sind und bislang nur von vier Ländern, darunter Russland, als selbstständige Staaten anerkannt worden sind.

Kwirikaschwili: Diese Regionen werden zunehmend in das politische und militärische System Russlands eingegliedert. 

ZEIT ONLINE: Sie sprechen von dem Abkommen über eine militärische Kooperation, das vor wenigen Tagen zwischen Abchasien und Russland geschlossen worden ist.

Kwirikaschwili: Nicht nur! Der russische Versuch, sich diese beiden Gebiete einzuverleiben, kennt sehr viele Facetten und Provokationen. Wir versuchen dennoch, die Hitze zu reduzieren und jede feindliche und aggressive Rhetorik zu vermeiden. Doch von den russischen Politikern kommt leider wenig Erfreuliches. Trotzdem wiederholen wir unermüdlich, dass Georgien nicht Mitglied der Nato werden will, um Russland zu bedrohen. Wir wollen mit Russland zusammenarbeiten und wir sehen keinen Widerspruch darin, zugleich unseren Weg in Richtung Westen fortzusetzen.

ZEIT ONLINE: Eine Erklärung für die russische Einmischung in Südossetien und Abchasien lautet: Ohne territoriale Integrität könne Georgien kein Nato-Mitglied werden. Wäre es nicht besser, Sie würden auf die Nato-Mitgliedschaft verzichten?

Kwirikaschwili: Eine Nato-Mitgliedschaft sollte nichts mit territorialer Integrität zu tun haben. Erstens wollen wir die Mitgliedschaft nicht, um unsere territoriale Integrität wiederzugewinnen – wir schließen die Anwendung militärischer Mittel aus, um dieses Ziel zu erreichen. Und zwar für immer. Unsere territoriale Integrität können wir nur über den Aufbau von Vertrauen zwischen Georgiern einerseits und Abchasiern und Südosseten andererseits zurückgewinnen. Eine Nato-Mitgliedschaft hat damit nichts zu tun. Eine Zusammenarbeit mit der Nato geht man ja nicht nur ein, weil man auf einen militärischen Schutzschirm hofft.

ZEIT ONLINE: Sondern?

Kwirikaschwili: Es geht um Werte! Um demokratische Institutionen! Es geht darum, zu dem einen oder zu dem anderen Club zu gehören. Georgien hat sich entschieden: Wir wollen Mitglied im europäischen und transatlantischen Club sein. Das heißt für uns: Wir bauen ein Land auf, das den  Standards der EU und Nato entspricht. Außerdem geht es um Loyalität. Georgien versteht sich als loyaler Partner der EU, der Nato und der USA im südlichen Kaukasus. Diese Loyalität ist eine Grundsatzentscheidung. Zugleich versuchen wir, enge Beziehungen mit den Ländern im Osten aufzubauen: mit China, mit den zentralasiatischen Ländern, mit Iran. Wir sind gern bereit, den Europäern zu helfen, ihre Beziehungen zu diesen Ländern zu vertiefen.