Im Bauch der Stadt

Rotterdam sieht sich gerne als Experimentierlabor für zeitgenössische Architektur und Städtebau. Mit der Markthal hat die Innenstadt ein ambivalentes Wahrzeichen städtischer Verdichtung bekommen.

Paul Andreas
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Eine Hommage an die sprechende Revolutionsarchitektur von Louis-Etienne Boullée – das gigantische neue Markthal-Gebäude von MVRDV in Rotterdam. (Bild: Daria Scagliola & Stijn Brakkee)

Eine Hommage an die sprechende Revolutionsarchitektur von Louis-Etienne Boullée – das gigantische neue Markthal-Gebäude von MVRDV in Rotterdam. (Bild: Daria Scagliola & Stijn Brakkee)

Ein monumentaler Torbogen, von kleinen quadratischen Lochfenstern perforiert, streckt sich wie eine gewaltige römische Tonnenhalle in die Länge. Auf den ersten Blick wirkt das erste grosse Heimspiel des Rotterdamer Büros MVRDV nicht so, als habe man sich beim Entwurf allzu lange mit Details aufhalten wollen. Dieses 40 Meter hohe, zwei Fussballfelder grosse Langhaus wirkt wie eine verspätete Reverenz an die sprechende Revolutionsarchitektur eines Louis-Etienne Boullée. Darüber hinaus erinnert es an die ironisch-postmodernen Wohnblock-Monumente, die Riccardo Bofill in den frühen 1980er Jahren für die Villes nouvelles vor den Toren von Paris schuf. «Food-Walhalla» hat die lokale Presse das Projekt getauft – und das trifft den Drang der Architekten, Masse in monumentale Zeichenhaftigkeit zu übersetzen, ganz gut. Es unterschlägt aber auch etwas von den eigentlichen Herausforderungen, ja Zumutungen dieses Bauwerks: Architektonisch interessant wird die Markthal vor allem dadurch, dass sie Funktionen, die sonst eher separat entwickelt und auch räumlich artig voneinander isoliert geplant werden, auf unkonventionelle Weise kombiniert und, soweit es die Bauvorschriften zulassen, zu einem ungewohnten Funktionshybrid verknüpft.

Im Hinterhof des Lebens

Eigentlich hätte das weiträumige, lange nur mit einem kleinen flachen Schulhaus und einer Garage bebaute Grundstück an der Metrostation Blaak mit zwei langgestreckten, zehn Etagen hohen Wohnblocks verdichtet werden sollen. Zwischen den beiden Scheibenhäusern war eine Markthalle für die Nahversorgung des umliegenden Laurensviertels vorgesehen. Der Projektentwickler Provast aus Den Haag arbeitete beim Investorenwettbewerb mit dem Büro MVRDV zusammen, und anders als die Konkurrenz verfiel man dem Geistesblitz, beide Bauaufgaben miteinander zu «verkuppeln»: Aus der tonnenartig abgerundeten Stapelung von zwei Laden- und neun Wohnetagen sowie einem Deckel mit einer abschliessenden Penthouse-Etage wurde der riesige Leerraum für die Stände und Shops der Markthalle geboren.

Dabei ging es nicht nur um reine Bauökonomie, sondern auch darum, Synergien zwischen den Funktionsbereichen herzustellen. Die über 250 Eigentums- und Mietwohnungen erhielten nicht nur einen Ausblick vom Balkon – viele von ihnen besitzen auch mindestens ein Fenster in den grossen Hallenraum. Wo in einem konventionell gestrickten Projekt kaum mehr als die leblose Aussicht über die Dachlandschaft der Einkaufshalle geblieben wäre, öffnet sich nun die Markthal als der grosse Hinterhof des Lebens. Dem Treiben darin wohnen die Bewohner wie die Zuschauer einer auf den Kopf gestellten Tribüne bei. Besonders schwindelerregend geht es in den obersten 24 Penthousewohnungen zu: In deren Lichthöfen lässt ein Bodenfenster die Bewohner geradezu über der Halle schweben.

Privater und öffentlicher, kommerziell genutzter Raum werden in der Markthal dichter aufeinander bezogen als bei herkömmlichen Projekten – die sonst eher auf Abstand gehaltene, als Belästigung der Privatsphäre angesehene Einkaufswelt wird damit geschickt zu einer städtischen Qualität des Wohnens umgemünzt. Wobei dieser Kuschelkurs der Funktionen doch letztlich nicht über Fensteraussichten hinausgeht: Dem ernstgemeinten Wunsch der Architekten, die Fenster so auszustatten, dass die Bewohner Einkaufskörbe mit der Bestellliste direkt zu den Ständen hinabseilen oder aber auch nur die Geräusch- und Geruchskulisse des Markttreibens einatmen können, standen konstruktive Hindernisse, aber auch Brandschutzvorschriften entgegen. Die Hallenfenster sind daher alle kompromisslos verschlossen.

Spektakulär sind die Innenaussichten von den 80 bis 300 Quadratmeter grossen, in den Grundrissen variierten Wohnungen allemal: Wie kleine Pixel wurden die unregelmässig angeordneten Fensterquadrate in ein überwältigendes «Totalraum-Fresko» des Rotterdamer Künstlerduos Arno Coenen und Iris Roskam eingelassen. Das der akustisch optimierten Aluminiumverkleidung der Halle aufwendig aufgedruckte Tableau erinnert weniger an Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle (wie es die Broschüren verkünden) als an die weniger bekannten, dafür umso turbulenteren Deckenfresken eines Andrea Pozzo. Die illusionistisch-fotorealistisch durchgestaltete Bildszene zeigt eine Kaskade von Feld-, Baum- und Meeresfrüchten, die vom Himmelszelt auf die Betrachter herabzustürzen scheinen. Etwas hilflos klammern sich Käfer, Schmetterlinge, Schnecken an die arten- und farbenreich inszenierten Erzeugnisse und mahnen beiläufig wie die Vanitas-Symbole in den Stillleben des Goldenen Zeitalters an die Endlichkeit irdischer Genüsse.

Das 400 000-Megapixel-«Raumfresko», das die Computer an ihre Fassungsgrenzen brachte, ist nicht nur perspektivisch gelungen – es macht auch die monumentalen Gebäudedimensionen greifbarer, indem es die Bodensphäre der über 100 Laden- und Verpflegungsstände mit der Weite und Höhe der Halle eng verknüpft. Die drei kleinteiligen, langgestreckten Ladengassen sind aus standardisierten Standmodulen gebildet – einige davon wurden mit Restaurantterrassen bedacht. Wie die Aussenfassade und der Granitboden sind sie in einem dezenten Grauton gehalten: Die Betreiber sind aufgefordert, der Warenpräsentation und Beschilderung ausdrücklich ihren eigenen Stempel aufzuprägen. Selbst wenn das Bild nicht nur von Delikatessenständen und Bio-Kooperativen, sondern durchaus auch von bodenständigeren Käse-, Obst- und Asia-Läden geprägt wird – ästhetisch wirkt das alles noch etwas zaghaft. Sehr gelungen ist dagegen die Belichtung der Halle: Durch die riesigen, dank einer elastischen Spannseilkonstruktion äusserst filigran erscheinenden Glasnetze der torförmig gebogenen Fronten strömt beidseitig so viel Tageslicht ein, dass der Raum nicht wie eine Shoppingmall, sondern eher wie ein mit dem Aussenraum verbundener Hangar wirkt – unterstrichen auch durch die natürliche Belüftung.

Wie sehr die Markthal aus ihrem lokalen Kontext geboren wurde, zeigt sich indes jeden Dienstag und Sonntag aufs Neue, wenn auf der zentralen Esplanade der Binnenrotte ein fast kilometerlanger Wochenmarkt stattfindet. Dort, wo einmal der Fluss Rotte sein Bett ausbreitete, bis er zugeschüttet und mit einem – heute ebenfalls verschwundenen – Bahnviadukt überbaut wurde, kann man alles Erdenkliche sehr günstig erwerben. Diesen Markt wollte man nicht verdrängen, sondern mit der Markthal durch hochpreisigere Angebote ergänzen und erweitern, sind doch entlang der Esplanade im letzten Jahrzehnt diverse Wohnbauten gehobeneren Standards entstanden.

Das Ziel der Stadt, bis 2040 die innerstädtische Bevölkerung zu verdoppeln, führt mitunter dazu, dass mit Projekten wie der Markthal – oder dem vor einem Jahr eröffneten Wolkenkratzer-Cluster «De Rotterdam» von OMA (NZZ 5. 12. 13) – geklotzt und nicht gekleckert wird. Sicher, Megaprojekte wie diese haben in Rotterdam Tradition: Hugh Maaskants kompakt und effizient verdichtetes Groothandelsgebouw am Hauptbahnhof war nach dem Zweiten Weltkrieg ein erstes herausragendes Beispiel dafür. Die starken Sogwirkungen, die solcherlei Verdichtungen auf das innerstädtische Umfeld ausüben, sind jedoch bei aller intendierten Nachhaltigkeit auch im «Manhattan an der Maas» mit Vorsicht zu geniessen: Schon in absehbarer Zeit wird der Markthal wohl ein Wohnturm an die Seite gestellt. Vermutlich wird es nicht der letzte sein, stehen doch Teile der deutlich niedrigeren Nachkriegsbebauung rund um die wiederhergestellte gotische Laurenskirche schon jetzt verdächtig leer und sanierungsbedürftig da.

Manischer Hang zu Megaprojekten

Sollte es zum Abbruch und zu einer weiteren grossmassstäblichen Überbauung des kleinteiligen Quartiers kommen, dann wird das ganz sicher grössere soziale Verdrängungen nach sich ziehen, zumal sich der geförderte Wohnungsbau in den Niederlanden seit 2008 quasi über Nacht verabschiedet hat. Aber auch Verdrängungen im historischen Gedächtnis der Stadt würden damit zwangsläufig einhergehen: Sieht man einmal vom mittlerweile erfolgreich denkmalgeschützten Wohn- und Geschäftsviertel Lijnbaan ab, würde die Innenstadt auf diese Weise die letzten zusammenhängenden Zeugen des Wiederaufbaus verlieren, die immerhin die städtische Grundierung nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs darstellen. Auch wenn es in Rotterdams DNA eingeschrieben zu sein scheint, sich von Dekade zu Dekade neu zu erfinden, macht doch letztlich gerade das patchworkartige Nebeneinander höchst unterschiedlicher Stadt- und Architekturentwürfe seit der Nachkriegszeit die Qualität dieser Metropole aus. Genau diese Vielfalt scheint aber – zumal in Zeiten, in denen das Reservoir der Brachen in der City schrumpft – von einem manischen Hang zu ikonischen Megaprojekten bedroht zu sein.