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Nahrungsergänzungsmittel

Was hilft wem?

Ob gegen Erkältung, Vergesslichkeit oder Gelenkschmerzen, Nahrungsergänzungsmittel werden in der Apotheke häufig nachgefragt. Doch was sagt die Evidenz zu Nutzen und Risiken der Präparate?
Hannelore Gießen
06.12.2018  10:44 Uhr

Zu viel an Mikronährstoffen könne ebenso schaden wie zu wenig, berichtete Professor Dr. Martin Smollich vom Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Lübeck Ende November in München. Die Kurve von einer Unterversorgung über eine optimale Konzentration bis hin zur Überdosis verlaufe für fast alle Mikronährstoffe U-förmig, führte der Pharmazeut und Ernährungsexperte bei der Herbstfortbildung des Wissenschaftlichen Instituts für Prävention im Gesundheitswesen (WIPIG) aus. Gerade Menschen, die ohnehin gesundheitsbewusst leben, nähmen gerne noch Nahrungsergänzungsmittel ein und könnten leicht in den Bereich der Überdosierung kommen, warnte Smollich.

Präparate gibt es viele zu unterschiedlichsten Indikationen, doch was sagt die Evidenz? Bei drei Indikationen sieht der Wissenschaftler den Nutzen von Nahrungsergänzungsmitteln als belegt an: in der Prävention von Atemwegsinfekten, während der Schwangerschaft sowie bei altersabhängiger Makuladegeneration.

NEM können nützen...

Zink senke tatsächlich die Häufigkeit und Dauer von Infekten, allerdings erst in einer Tagesdosierung ab 75 mg. Von einer Dauereinnahme dieser hohen Dosierung riet Smollich deutlich ab, da es schon nach mehr als einer Woche zu einem Kupfermangel kommen könne.

Als besonders beratungsintensiv stuft der Experte die Versorgung mit Mikronährstoffen in der Schwangerschaft ein, denn eine Substitution hänge wesentlich von der Ernährungsform ab. Obligatorisch für alle Schwangeren ist eine tägliche Folsäuregabe von 600 I.E., während eine Veganerin zusätzlich Iod (100 bis 150 μg/d), Docosa­hexaensäure (DHA, 200 mg/d), Vitamin D (400 bis 800 I.E.), Vitamin B12 (3,5 µg/d) und Zink (10 mg/d) sowie bei einem nachgewiesenen Mangel auch Eisen substituieren sollte.

Patienten, die an der trockenen Variante der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) in mittleren und fortgeschrittenen Stadien erkrankt sind, profitieren von einer Kombination aus Mikronährstoffen entsprechend der AREDS-1-Studie: Vitamin C (500 mg/d), Vitamin E (400 I.E./d), Zinkoxid (80 mg/d), Kupferoxid (2 mg/d), Betacarotin (15 mg/d). Eine differenzierte Empfehlung gab Smollich Rauchern, die entsprechend der AREDS-2-Studie statt Betacarotin täglich 10 mg Lutein sowie 2 mg Zeaxanthin einnehmen sollten.

»Auch für den Nutzen einer ausreichenden Vitamin-D-Versorgung gibt es gute Daten«, berichtete der Wissenschaftler. Unter einer Substitution mit Vitamin D nahm die Zahl an Atemwegsinfekten deutlich ab, vor allem wenn der Ausgangswert unter 25 nmol/L lag. Die groß angelegte 2017 publizierte Studie hatte Probanden eingeschlossen, die unterschiedliche Dosen an Vitamin D im Tages- oder Wochenrhythmus erhalten hatten. Eine monatliche Depotgabe habe jedoch nicht denselben protektiven Effekt gezeigt, hob Smollich hervor (»British Medical Journal« 2016, DOI: 10.1136/bmj.i6583).

…und schaden

Smollich warnte vor der weit verbreiteten Auffassung, Mikronährstoffe würden doch sicher nicht schaden: »Eine tägliche Calciumgabe von mehr als 1500 mg erhöht das kardiovaskuläre ­Risiko, unter einer Folsäuresubstitution ist die Zahl an Prostatakarzinomen angestiegen, unter Selen das Mortalitätsrisiko«, sagte Smollich.

Die VITAL-Studie hat einen Zusammenhang zwischen der hoch dosierten Einnahme von Vitamin B6 und B12 und einem erhöhtem Risiko für ein Bronchialkarzinom gezeigt. Grüntee-Extrakte wurden mit Leberversagen assoziiert, algenhaltige Nahrungsergänzungsmittel mit einer Hyperthyreose.

Die Hoffnung, durch Antioxidanzien zur Krebsprävention beizutragen, wurde schon 1996 durch die CARET-Studie gedämpft: Forscher hatten erwartet, Raucher mit Betacarotin und Vitamin A besser vor Lungenkrebs schützen zu können. Doch das Lungenkrebsrisiko erhöhte sich unter Vitaminsubstitution im Vergleich zu Placebo um 28 Prozent, statt wie erhofft zu sinken. Ähnlich enttäuschend verlief die »Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial« (SELECT), bei der die Probanden entweder 400 mg Vitamin E, 200 µg Selen, beide Mikronährstoffe oder Placebo erhalten hatten: Weder Selen noch Vit­amin E noch deren Kombination konnten das Risiko für ein Prostatakarzinom signifikant senken.

Eindeutig kontraproduktiv sind Anti­oxidanzien während einer Radio- und/oder Chemotherapie. Die S3-Leitlinie »Klinische Ernährung in der Onkologie« führt zudem an, dass nicht nur die Effektivität von Zytostatika sinken kann, sondern auch die Zytostatikaresistenz von Tumorzellen zunimmt, wenn die Zellen mehr Antioxidanzien erhalten.

Kritisch sieht Smollich auch die sogenannten Botanicals, zu denen aus Pflanzen, Algen, Pilzen oder Flechten gewonnene pflanzliche Stoffe und Zubereitungen zählen. Seit 2010 werden Health Claims, also werbliche Gesundheitsaussagen von Botanicals nicht mehr überprüft. Um sie in den Verkehr zu bringen, müssen zwar einige Voraussetzungen erfüllt sein, für die jedoch der Nachweis des Herstellers genügt. Beispielsweise dürfen Botanicals keine pharmakologische Wirkung haben.

Genau diese Voraussetzung sieht Smollich bei Rotschimmelreis nicht erfüllt: Bei der Fermentierung des Reises mit einem Pilz entsteht Monacolin-K, das identisch ist mit Lovastatin. Damit gelten für das »Naturprodukt« alle Risiken durch Interaktionen und Kontra­indikationen wie für Statine. Smollich mahnte zudem die Dosierungsungenauigkeit bei dem als Lebensmittel vermarkteten Produkt an und sieht hier deutlichen Handlungsbedarf bei den Aufsichtsbehörden.

Erst messen, dann substituieren?

Die Standardempfehlung, vor einer Substitution erst die Blutspiegel zu messen, nahm Dr. Markus Zieglmeier, Klinikapotheker in München-Bogenhausen, unter die Lupe: Dies triff nicht zu, außer bei den B-Vitaminen, Vitamin D und Eisen. Er empfahl die Bestimmung der Vitamine B1 und B2 sowie bei entsprechender Indikation auch von Vitamin B12. Zieglmeier plädierte dafür, das Gesamt-Transcobalamin zu messen, um inaktive Metabolite auszuschließen.

Während es weder nötig noch sinnvoll sei, die Blutspiegel der Vitamine A und E zu ermitteln, fehle Vitamin D tatsächlich vielen, vor allem älteren Menschen, da die Synthesekapazität mit steigendem Lebensalter deutlich sinkt.

Neben vielen klinischen Indikationen und einer veganen Ernährung könne auch eine langjährige Verwendung von Protonenpumpenhemmern zu einem Defizit an Eisen führen, hob Zieglmeier hervor. Bevor Eisen jedoch substituiert wird, muss der Blutspiegel bestimmt werden. Da das Serumeisen im Tagesverlauf um den Faktor drei schwanke, sei eine Messung nur zusammen mit Transferrin sinnvoll. Der Spiegel des körpereigenen Transportproteins für Eisen ist bei Eisenmangel erhöht.

Der Hype um Mikronährstoffe und die rechtlich unbefriedigende Situation erfordern hohe Kompetenz und Aufmerksamkeit des Apothekenteams, um eine Schneise in das unübersichtliche Dickicht zu schlagen, lautete das Fazit der Experten.

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