Die Berichtssaison zum vierten Quartal 2020 beendete für die großen integrierten europäischen Öl- und Gaskonzerne ein Jahr, das von einem "perfekten Sturm" aus makroökonomischem Gegenwind geprägt war, schreibt Goldman Sachs in einer aktuellen Branchenstudie.

In der Publikation der US-Investmentbank ist die dabei die Rede von niedrigen Rohstoffpreisen, schwierigen Downstream-Margen und -Volumina sowie Covid-19-bedingten Betriebsstörungen.

Mit Blick auf die Zukunft sehen die Studienautoren aber ein durchschnittliches Aufwärtspotenzial bei den beobachteten Branchenvertretern von rund 26% zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Reports. Diese konstruktive Erwartungshaltung stützt sich auf positive Gewinnrevisionen, den Neustart wesentlicher Aktienrückkaufprogramme und die Prognose starker Ergebnisse für das erste Quartal 2021.

BÖRSE ONLINE berichtet nachfolgend aus der Studie inklusive einer Aufzählung jener drei wichtigen potenziellen Katalysatoren, die laut Goldman Sachs in den nächsten zwölf Monaten für eine gegenüber dem Gesamtmarkt überproportional gute Wertentwicklung sorgen sollen. Zudem stellen wir jene fünf europäische Ölaktien vor, die das US-Institut als die Top-Picks bezeichnet.

"Die Gewinner der Erholung"



Die Finanzmärkte sind im laufenden Jahr dabei, das Potenzial für eine Reflation neu zu bewerten. Rohstoffe haben von dieser reflationären Verschiebung am meisten profitiert und Energie ist laut Goldman Sachs der Vermögenswert mit der besten Performance im Jahresvergleich. Dennoch seien aber viele energiebezogene Vermögenswerte während der jüngsten starken Rohstoffrallye zurückgeblieben. Am stärksten sei davon der EU-Energiesektor betroffen.

Zu sehen sei das auch das vor dem Hintergrund, dass die großen europäischen Öl- und Gaskonzerne ein Jahr hinter sich haben, das von einem "perfekten Sturm" von makroökonomischem Gegenwind geprägt gewesen sei. So sei eine Kombination aus niedrigen Rohstoffpreisen, herausfordernden Downstream-Margen und -Volumina sowie Covid-19-bedingten Betriebsstörungen zu beobachten gewesen.

Auch vor diesem Hintergrund habe die Gruppe insgesamt relativ schwache Ergebnisse für das vierte Quartal 2020 vorgelegt. Insgesamt hätten die Großkonzerne die Konsenserwartungen für das Betriebsergebnis und den bereinigten Nettogewinn um zwölf Prozent bzw. um drei Prozent verfehlt.

Nichtsdestotrotz sei es trotz der historischen Herausforderungen gelungen,, einen positiven freien Cashflow erwirtschaften. Auch sonst könnte nunmehr die starke Dynamik negativer Gewinnrevisionen zu einem Ende gekommen sein. Fast alle wichtigen Einflussfaktoren auf die Erträge, wie etwa die Öl- und Gaspreise hätten sich zuletzt deutlich verbessert.

Unter anderem sei zu konstatieren, dass der Transportsektor die Komponente der Ölnachfrage sei, die am stärksten unter dem Konjunkturabschwung gelitten habe. Doch die Analysten gehen davon aus, dass die Prognosen für ein starkes globales BIP-Wachstum im Jahr 2021 und die Coronavirus-Impfungen den Beginn einer Erholung der transportbezogenen Ölnachfrage im Jahr 2021 unterstützen können. Eine Erholung im Transportsektor könnte auch die großen Ölaktien wieder in Schwung bringen, was einer der wichtigsten Kurstreiber in den kommenden Monaten sein könnte.


Aussicht auf positive Gewinnrevisionen



Während sowohl die Konsenserwartungen für den Ölpreis 2021 als auch der Brent-Forward 2021 bisher eine starke Erholung von der Talsohle im Mai 2020 gezeigt hätten, habe sich dies bisher nicht in nennenswerten positiven Konsens-Gewinnrevisionen bei den großen europäischen Ölkonzernen niedergeschlagen.

Goldman Sachs hat aber genau das jüngst getan und die bereinigten Schätzungsrevisionen zum Gewinn je Aktie des US-Instituts im Vergleich zum Bloomberg-Median-Konsens für die Jahre 2021 bis 2023 ist aus der nachfolgenden Tabelle zu ersehen. Demnach bewegen sich die Schätzungen von Goldman Sachs für 2021 und 2022 deutlich über den durchschnittlichen Analystenprognosen.

In Sachen Gewinnerholungspfad geht die US-Investmentbank folglich davon aus, dass sich dieser im Verlauf des Jahres 2021 beschleunigen wird, was durch den bullischen Ölpreisausblick des eigenen Rohstoffteams für 2021 unterstrichen werde.

Dies gehe einher mit einer konstruktiveren Sicht auf die Nachfrageerholung sowie die strukturelle Unterinvestition in der Öl- und Gasindustrie, von der man annimmt, dass diese ab dem Jahr 2021 zu einem Ende des Angebotswachstums bei den ölproduzierenden Ländern abseits der OPEC führen wird.


Kapitalrückzahlen an die Aktionäre dürften steigen



Während hohe Ausschüttungsquoten im Interesse der Aktionäre der großen Ölkonzern seien und nach Ansicht von Goldman Sachs auch wichtig für die strategische Kapitalallokation sind, stellen die Analysten fest, dass die 2020 insgesamt niedrigere Dividendenrückzahlung der Gruppe (mit Ausnahme von Total) den Unternehmen weitere Flexibilität und Optionalität eröffnet und gleichzeitig das effektive Management des Verschuldungsgrads unterstützt habe.

Man ist aber auch der Meinung, dass das aktuelle Umfeld den Unternehmen jetzt eine einzigartige Gelegenheit bietet, die Reihenfolge der Rationierung ihrer Barmittelausgaben angesichts des Cashflow-Drucks neu zu bewerten, und man argumentiert, dass Rückkaufprogramme oder variable Dividenden ein zentraler Bestandteil der Politik der großen Ölkonzerne zur Rückführung von Barmitteln an die Aktionäre sein könnten.

Passend dazu verweist man auch darauf, dass BP und Royal Dutsch Shell sich beide vorbehaltlich der Entflechtung der eigenen Bilanzen dazu verpflichtet hätten, überschüssigen Cashflows an die Aktionäre zurückzugeben. Trotz der von der Gruppe insgesamt gesenkten Dividenden böten die großen europäischen Ölaktien derzeit eine Dividendenrendite von rund 5,4 Prozent auf Basis der Schätzungen für 2022.

Zudem führe eine konstruktive Makroeinschätzung für 2021 durch die Experten von Goldman Sachs zu einer steigenden Aussicht auf Aktienrückkäufe, die bei einigen Namen im beobachteten Anlageuniversum zu weiteren Zusatzrenditen von zwei Prozent bis sechs Prozent führen könnten.


Neuausrichtung in Zeiten des Klimawandels



Die großen Ölkonzerne haben in ihrer über 100-jährigen Geschichte laut Goldman Sachs die Fähigkeit bewiesen, sich dem technologischen Wandel anzupassen. Jetzt sei es strategisch wichtig, dass die Gruppe den kohlenstoffarmen Übergang vorantreibt, der mit dem globalen Ziel, die Erderwärmung auf 2°C zu begrenzen, vereinbar ist. Es gebe viele Werkzeuge, um diesen Übergang zu erreichen und zu breiteren, saubereren Energieanbietern zu werden.

In einer gesonderten Analyse kommt man zu dem Schluss, dass die großen Ölkonzerne in der Lage sind, ihre Kohlenstoffemissionen bis zum Jahr 2030 um rund 23 % im Vergleich zu 2019 zu reduzieren.

Die EU-Taxonomie, die von der EU-Kommission vorangetrieben werde, sei derzeit der erste und detaillierteste Versuch, wirtschaftliche Aktivitäten im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit zu klassifizieren und diene als Werkzeug für Investoren, Unternehmen, Emittenten und Projektträger, um den kohlenstoffarmen Übergang zu navigieren.

Goldman Sachs schätzt, dass die großen europäischen Ölkonzern ihren Anteil an steuerlich absetzbaren Umsätzen bis 2030 von derzeit rund sieben Prozent auf rund 25 Prozent des Konzernumsatzes erhöhen könnten, da sie ihre Transformation fortsetzten. Ähnlich verhalte es sich mit den Investitionsausgaben (Capex). Man geht davon aus, dass bis zum Jahr 2030 rund 40 Prozent dieser Investitionsausgaben auf Aktivitäten entfallen könnten, die nach der Taxonomie förderfähig sind, verglichen mit rund zehn Prozent im Jahr 2019.

Nach Meinung der US-Investmentbank wird dieser Wandel angetrieben durch: (1) eine starke Ausweitung des kohlenstoffarmen Stromgeschäfts im Einklang mit den von den Unternehmen festgelegten Zielen, unterstützt durch wachsende Stromeinzelhandels- und -handelsaktivitäten; (2) eine starke Präsenz in der Petrochemie, die einen wachsenden Markt für Kohlenwasserstoffe ohne Verbrennung bietet; (3) eine Ausweitung der Produktionskapazitäten für Biokraftstoffe, insbesondere für fortschrittliche Biokraftstoffe; (4) eine führende Rolle bei Technologien zur Kohlenstoffsequestrierung; und (5) eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung von sauberem Wasserstoff.


Vorteilhafte Bewertungsrelationen



Goldman Sachs hält die Aktien der großen europäischen Ölkonzerne sowohl aus Bewertungs- als auch aus Renditegesichtspunkten für attraktiv. So würden diese Titel derzeit mit einem geschätzten KGV für 2022 von im Schnitt 7,8 gehandelt, was sich mit einem 20-jährigen Durchschnittswert von 13,6 vergleiche.

Außerdem komme die Gruppe im Schnitt mit Blick auf die Schätzungen für 2022 mit einem Abschlag von rund 32 Prozent auf den historischen 20-Jahres-Durchschnitt beim Verhältnis von Unternehmenswert zum schuldenbereinigten Cash Flow daher. Und das, obwohl sie gemäß den Schätzungen des US-Instituts die attraktivsten freien Cashflow-Renditen seit Jahrzehnten aufweisen.

Dies sollte nach Ansicht der Analysten zu attraktiven Dividendenrenditen und einer steigenden Aussicht auf zusätzliche Aktienrückkäufe führen. Während des Ölpreisabschwungs von 2014-2016 habe die Fähigkeit der großen europäischen Ölkonzerne sich anzupassen und ihre Upstream-/Downstream-Portfolios umzugestalten, ihre Wiederauferstehung ermöglicht. Den Prognosen der US-Investmentbank zufolge sollten die anhaltende Kapitaldisziplin und die betriebliche Effizienz eine widerstandsfähige Navigation durch den Abschwung und die Verbesserung der Unternehmensrenditen aus der Talsohle unterstützen.

Man bewerten die großen Ölkonzerne der EU im Schnitt mit einem Verhältnis von Unternehmenswert zum schuldenbereinigten Cash Flow für 2022, das weitgehend mit dem historischen Durchschnitt übereinstimme und bereits die Ansicht der Analysten widerspiegele, dass sich ein langsameres Wirtschaftswachstum in Sorgen um das Wachstum der Ölnachfrage niederschlagen könnte, was wiederum die Zahlungsbereitschaft des Marktes für die strukturelle Verbesserung der Unternehmensrenditen, die man für die integrierten Ölkonzerne in den nächsten fünf Jahren erwartet, einschränken könnte.


Die fünf Top-Kaufempfehlungen



Abschließend verraten wir noch jene fünf Aktien, die Goldman Sachs unter den europäischen Ölkonzernen als Top-Kauf-Tipps bezeichnen. Den Vorgaben zufolge winken hier Anstiege von 22 Prozent bis 61 Prozent gemessen an den Kurszielen und den aktuellen Notierungen. - BP Positiv gestimmt ist Goldman Sachs unter anderem für das britisches Mineralölunternehmen BP Plc. Hier hoben die Analysten jüngst das Kursziel um 9,3 Prozent von 430 britische Pence auf 470 Pence an. Gemessen am Schlusskurs vom Freitag von 292 Pence birgt das ein Aufwärtspotenzial von fast 61 Prozent. Die Prognose zum Gewinn je Aktie für 2023 beträgt 0,67 Dollar. Auf dieser Basis ergibt sich ein geschätztes KGV von rund sechs.

Zur Begründung für das positive Anlagevotum heißt es, BP stehe an der Schwelle, eine der stärksten Pipelines an neuen Öl- und Gasprojekten der Branche zu liefern und gleichzeitig seine GoM- und Nordsee-Legacy-Assets zu revitalisieren. Das könnte zu einer freien Cashflow-Rendite von rund 16 Prozent im Jahr 2022 führen, verbunden mit steigender Aussicht auf Aktienrückkäufe. Das Unternehmen konzentriere sich außerdem verstärkt auf Kapitaldisziplin und Kosteneffizienz und habe eine verbesserte Dekarbonisierungsstrategie auf dem Weg zu einer Netto-Null-Kohlenstoffbilanz eingeführt.

- ENI Bei der zweiten Top-Empfehlung ENI S.p.A. hat Goldman Sachs kürzlich das Kursziel um 8,7 Prozent von 11,5 Euro auf 12,5 Euro erhöht. Bei einer Freitags-Schlussnotiz von 9,482 Euro winkt somit ein Anstieg von fast 32 Prozent. Die Ergebnisschätzung je Aktie für 2023 beträgt 1,10 Euro. Folglich errechnet sich daraus ein geschätztes KGV von 8,6.

Der italienischer Mineralöl- und Energiekonzern wandele sich zu einem ertragsstärkeren Unternehmen, angetrieben durch führende Explorationserfolge, Veräußerungen und eine starke Pipeline von Projektstarts. Zudem sieht man die variable Dividendenpolitik, ergänzt durch Aktienrückkäufe, als attraktiv für die Aktionäre an.

- Repsol Beim dritten Mitfavoriten, dem spanischen integrierten Ölkonzern Respol, hat Goldman Sachs unlängst das Kursziel um 8,3 Prozent von 12,0 Euro auf 13,0 Euro nach oben geschraubt. Bei einer Schlussnotiz am Freitag von 10,42 Euro lässt das knapp 25 Prozent Luft nach oben. Die Schätzungen zum Gewinn je Aktie sehen 1,84 Euro für 2023 vor, was gleichbedeutend mit einem geschätzten KGV von 5,66 wäre.

Nach Ansicht der Analysten bietet Repsol eine der attraktivsten Cash-Renditen für Aktionäre im beobachteten Anlageuniversum (geschätzte Dividendenrendite von 5,7 Prozent in 2021). Da das Unternehmen über eines der widerstandsfähigsten Downstream-Geschäfte in Europa verfüge, sei es gut positioniert, um den aktuellen makroökonomischen Abschwung zu meistern und in den kommenden Jahren einen widerstandsfähigen Cashflow zu generieren, der von einer potenziellen Erholung der Transportölnachfrage profitiere.

- Royal Dutch Shell Im Falle der vierten Empfehlung Royal Dutch Shell hat Goldman Sachs jüngst das Kursziel von um 7,3 Prozent von 20,5 Euro auf 22,0 Euro nach oben genommen. Bei einer Schlussnotiz vom Freitag von 15,88 Euro winken bei einer Zielerreichung Gewinne von 38,5 Prozent. Bei einem geschätzten Gewinn je Aktie von 2,25 Dollar für 2023 ergibt sich ein KGV von 8,75.

Der britisch-niederländischen Mineralöl- und Erdgas-Unternehmen habe zwar seine Dividende in diesem Jahr gesenkt, biete aber im Vergleich zur Vergleichsgruppe eine attraktive Rendite auf den freien Cashflow (geschätzte 14 Prozent in 2022) und eine glaubwürdige Dekarbonisierungsstrategie, die von seiner führenden integrierten Gassparte angetrieben werde.

- Total S.A. Der fünfte Top-Pick von Goldman Sachs heißt Total und hier hat man das Kursziel kürzlich um 2,2 Prozent von 46,00 Euro auf 47,00 Euro nach oben gesetzt. Das ist eine Vorgabe, die sich um 22,5 Prozent über der Schlussnotiz von 38,38 Euro am Freitag bewegt. Bei einem erwarteten Gewinn je Aktie von 4,72 Euro für 2023 ergibt sich ein geschätztes KGV von gut acht.

Das französische Mineralölunternehmen ist für die Analysten ein struktureller Branchengewinner mit einer starken Cashflow-Generierung (rund 11 Prozent geschätzte freie Cashflow-Rendite in 2022), der branchenweit eine der führenden Cash-Renditen für die Aktionäre, was in einer Dividendenrendite von geschätzt gut sieben Prozent für 2022 zum Ausdruck komme. Das Unternehmen verfüge über eine der stärksten Bilanzpositionen mit einem vergleichsweise niedrigen Verschuldungsgrad.