Immunzellen geraten ausser Kontrolle

Die zwei Autoimmunerkrankungen, Typ-1-Diabetes und multiple Sklerose, haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Forscher identifizieren Verursacher in der Umwelt. Damit rückt die Prävention in greifbare Nähe.

Ulrike Gebhardt
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Russische Kinder erkranken seltener an Typ-1-Diabetes (Bild: Sergei Grits / AP)

Russische Kinder erkranken seltener an Typ-1-Diabetes (Bild: Sergei Grits / AP)

Irgendetwas stimmt nicht, Lucas Mutter ist besorgt. «Mama, ich habe so einen Durst», klagt der Neunjährige seit einigen Tagen immer wieder. Lucas kommt nach der Schule erschöpft heim, und am Nachmittag ist an Fussballspielen mit den Freunden nicht zu denken. In der Notfallstation des Kinderspitals Zürich bestätigt sich der Verdacht des Hausarztes: Lucas ist an einem Typ-1-Diabetes erkrankt.

Damit ist er keine Ausnahme. In Finnland erkrankt inzwischen eines von 120 Kindern am Typ-1-Diabetes (die höchste Rate weltweit). «In der Schweiz, wie auch in Deutschland und den USA ist etwa eines von 300 Kindern unter 15 Jahren betroffen», sagt Daniel Konrad, Leiter der Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie am Kinderspital Zürich. Seit den 1980er Jahren beobachteten die Zürcher Ärzte eine jährliche Zunahme von 3 bis 5 Prozent, in den letzten fünf Jahren stagnieren die Zahlen in der Schweiz auf hohem Niveau.

Täglich Insulin Spritzen

Der Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die Abwehrzellen die Insulin produzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse angreifen. Der Körper kann den Verlust noch eine Weile ausgleichen. Sind jedoch 80 bis 90 Prozent der Beta-Zellen zerstört, kommt es zu den beschriebenen Symptomen. Von da an müssen die Betroffenen täglich Insulin spritzen oder mittels einer Pumpe zuführen und genau darauf achten, wie viel sie wann essen. Damit gelinge es zwar fast immer, die Krankheit in den Griff zu bekommen, aber es sei eine grosse Bürde, sagt Konrad.

Wie alle anderen Autoimmunleiden hat auch der Typ-1-Diabetes eine genetische Komponente. Gewisse Genvarianten erhöhen das Risiko, irgendwann im Leben daran zu erkranken. Doch eine so grosse Zunahme wie in den letzten 50 Jahren kann nicht allein durch die Genetik erklärt werden. So rasch kann es nicht zu Veränderungen im Genpool einer Bevölkerung gekommen sein. Deshalb vermuten Forscher, dass gewisse Umweltfaktoren im Zusammenspiel mit den Genen zu den folgenreichen Irritationen des Immunsystems führen. Doch was hat sich geändert in den letzten Jahrzehnten, das dem Immunsystem so zu schaffen macht?

Bakterien als Mittäter

Es werden verschiedene Umweltfaktoren diskutiert, zum Beispiel Infektionen mit Viren in einem empfindlichen Zeitfenster, Zigarettenrauch, niedriger Vitamin-D-Spiegel, die Belastung des Körpers mit Schwermetallen, Lösungsmitteln, Pestiziden oder Nitrat. Als ein Hauptverdächtiger rückte in den letzten Jahren das Mikrobiom in den Mittelpunkt der Forschung. Kein Wunder, denn die Gemeinschaft der Mikroorganismen, besonders im menschlichen Darm, ist wesentlich daran beteiligt, wie die Körperabwehr auf Fremdes reagiert. «Die Darmflora hat sicherlich Einfluss auf die Autoimmunität, positiv wie negativ», sagt Konrad.

Die Zusammensetzung der Darmflora wird wiederum davon beeinflusst, was wir essen und mit wie vielen und welchen Mikroorganismen wir seit der Geburt in Kontakt kommen. Der Frage, ob Veränderungen im Mikrobiom eventuell die Entstehung des Typ-1-Diabetes fördern, ist eine amerikanisch-finnische Arbeitsgruppe nachgegangen. Die Forscher begleiteten 33 finnische Neugeborene mit einem erhöhten genetischen Risiko, an Diabetes zu erkranken in ihren ersten Lebensjahren.

Insgesamt 20 Mal analysierten sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten das Mikrobiom der Kinder. Nach drei Jahren waren vier der 33 kleinen Finnen an Diabetes erkrankt. Bei all diesen Kindern hatte es ungefähr ein Jahr vor den ersten Anzeichen der Erkrankung eine deutliche Veränderung bei der Zusammensetzung der Mikrobengesellschaft im Darm gegeben. Die Vielfalt nahm um ungefähr ein Viertel ab, entzündungsfördernde Bakterien traten vermehrt auf.

Die Ergebnisse zeigten, dass es über die Korrektur des Mikrobioms möglich sein könnte, die Entwicklung hin zum Typ-1-Diabetes zu verlangsamen oder gar zu verhindern, schlussfolgert Studienleiter Ramnik Xavier vom Massachusetts General Hospital in Boston.

Russische Kinder besser geschützt

In einer zweiten Studie, die die Forscher im Mai veröffentlichten, dehnten sie ihre Untersuchung auf 222 Kinder mit einem erhöhten genetischen Diabetesrisiko aus. Allerdings leben die Kinder zu gleichen Teilen in Finnland, Estland oder im russischen Grenzgebiet Karelien. Russische Kinder erkranken weit seltener am Typ-1-Diabetes.

Nach drei Jahren kam bei 16 finnischen, 14 estnischen und nur vier russischen Kindern eine Autoimmunreaktion gegen die Bauchspeicheldrüse in Gang. Obwohl alle Kinder Risikogene für Diabetes tragen und in der gleichen geografischen Region leben, unterscheidet sich ihr Mikrobiom deutlich voneinander.

Insgesamt war das Mikrobiom der russischen Kinder vielfältiger als das ihrer Altersgenossen und setzte kontinuierlich mehr Moleküle aus der Bakterienwand frei (Endotoxin LPS), die das Immunsystem offenbar positiv aktivieren. Bei den Finnen und Esten dominierten Bakterien der Gruppe Bacteroides bei den Russen dagegen Bifidobakterien und E. coli. Die Bakterien der Bacteroides-Gruppe produzieren einen LPS-Typ, der hemmend auf die Körperabwehr wirkt. «Wir haben einige Bakterien gefunden, zum Beispiel Bacteroides dorei, die Säuglinge anfällig für Autoimmunität und Typ-1-Diabetes machen können», sagt Tommi Vatanen, der Erstautor der Studie.

Schlechte Hygiene trainiert das Immunsystem

Das Gebiet Karelien ist relativ arm, die Lebensweise der Menschen ähnelt derjenigen in Finnland vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie trinken zum Beispiel Brunnenwasser, fäkal-orale Infektionen sind häufiger, die Lebenserwartung ist über 10 Jahre kürzer als in Finnland. Offenbar ist das unter diesen rauen Lebensbedingungen herangereifte Immunsystem aber weniger anfällig für eine Autoimmunerkrankung.

Daniel Konrad aus Zürich findet die Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom und dem Typ-1-Diabetes spannend. «Es ist aber nicht ganz auszuschliessen, dass die Mikrobiomveränderung lediglich eine Begleiterscheinung der Erkrankung ist», sagt der Kinderarzt. Man kenne den Typ-1-Diabetes schon lange, aber bisher sei noch kein Auslöser gefunden. Wahrscheinlich gebe es mehrere.

Das amerikanisch-finnische Team dagegen ist sich seiner Sache sicher. Es hofft, Kindern bald die Mikroben zuführen zu können, die sie für eine gesunde Entwicklung des Immunsystems brauchen, um die Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen zu senken. Damit gehört es nicht zu den Ersten. Eine Studie aus dem letzten Jahr zeigte, dass eine frühe Gabe von Probiotika daran beteiligt sein kann, anfällige Kinder vor einem Typ-1-Diabetes zu schützen.

Vatanens Studie liefert nun Erkenntnisse für ein zielgerichtetes Vorgehen, weil sie einen Mechanismus vorschlägt, wie das Mikrobiom schützend einwirkt und zeigt, welche Bakterienarten dabei weniger hilfreich sind.

Prävention könnte sehr wirksam sein

Optimistisch gibt sich auch Alberto Ascherio, Epidemiologe von der Harvard School of Public Health in Boston. Sein Steckenpferd ist die multiple Sklerose (MS), bei der das Immunsystem das körpereigene Isoliermaterial der Nerven, das Myelin, zerstört. Ein grosser Anteil der MS-Erkrankungen könne durch Prävention verhindert werden, sagt Ascherio.

Er denkt dabei hauptsächlich an vier Einflussfaktoren, die dank epidemiologischen Studien in einen deutlichen Zusammenhang mit der MS gebracht wurden. Man müsse zum Beispiel in der Bevölkerung für einen ausreichend hohen Vitamin-D-Spiegel sorgen. Vitamin D hat einen besänftigenden Einfluss auf das Immunsystem. Ausserdem gelte es, Übergewicht im Jugendalter zu vermindern, Zigarettenkonsum zu stoppen und möglicherweise gegen das Epstein-Barr-Virus zu impfen. Vieles spricht dafür, dass eine späte Infektion mit diesem Virus die Entwicklung der MS vorantreibt.

Umwelteinflüsse schalten Gene an

Doch auch bei der MS ist die Sache kompliziert: Man hat es mit einem grossen Potpourri von Einflüssen zu tun. Neben der Umwelt spielen wie beim Diabetes auch die Gene eine Rolle. Bisher habe man Hunderte von genetischen Einflussfaktoren für die MS ausgemacht, sagt Bertram Müller-Myhsok vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. «Wir sind da in einem sehr komplexen System gefangen.»

Zu dieser Fülle an Risikogenen kommen nun noch vier neue hinzu. Müller-Myhsok entdeckte sie zusammen mit einem deutschen Forschungskonsortium an einer Gruppe von 4888 MS-Kranken, deren Gene man mit denen von 10 395 gesunden Kontrollpersonen verglich.

Alle vier Gene sind an der Regulation der Immunabwehr beteiligt, und alle haben direkt oder indirekt etwas mit einer chemischen Modifikation der Erbsubstanz zu tun. Mit diesem epigenetischen Mechanismus wird die Aktivität von Genen gesteuert. «Umweltfaktoren können darüber die Aktivität von MS-relevanten Genen verändern. Die Regulation der Methylierung könnte laut unserer Studie eine Schnittstelle sein, an der genetische und umweltbedingte Risikofaktoren für MS ineinandergreifen», sagt Müller-Myhsok.

Je besser man diese äusseren Risikofaktoren kennt und weiss, wer wegen seiner Veranlagung anfällig auf eine Autoimmunkrankheit ist, desto eher werden Präventionsmassnahmen greifen. Hoffentlich so effektiv, dass weniger Menschen MS bekommen und Kinder wie Lucas gar nicht erst am Typ-1-Diabetes erkranken.