smow Blog Interview: Thomas Gerber, CEO Wilde+Spieth – Das Design der Orchesterstühle ist verglichen mit der Ignieursleistung zweitrangig

Obgleich noch kein endgültiger Beweis vorliegt, hat sich in den letzten Jahren die Annahme durchgesetzt, dass sich langes Sitzen negativ auf die Gesundheit auswirken kann und dass diejenigen, die berufsbedingt viel sitzen, regelmäßig stehen, sich bewegen und ihre Arbeitsposition ändern sollten.

Aber was ist mit denen, die das nicht können? Mit denen, deren Jobs nun einmal langes Sitzen voraussetzen?

Wilde+Spieth Musikerstuhl (Photo Wilde+Spieth)

Wilde+Spieth Musikerstuhl (Photo Wilde+Spieth)

Zwar steht nicht jedem Arbeitnehmer ein höhenverstellbarer Schreibtisch oder ein 3D-Bürodrehstuhl zur Verfügung, jedoch hat jeder die Möglichkeit, sich regelmäßig zu bewegen und seine Arbeitsposition im Laufe des Tages zu verändern: zu den Kollegen laufen, statt sie anzurufen oder zu skypen, Ordner und Dokumente außerhalb der Reichweite aufbewahren, sodass man aufstehen muss, um an sie heranzukommen, Meetings im Stehen statt im Sitzen abhalten – das sind alles einfache Vorschläge. Dass viele all das nicht machen, ist nur schlechte Angewohnheit, aber es gibt Möglichkeiten.

Es gibt aber auch Berufszweige, die diese Möglichkeiten nicht haben, weil sitzen die einzige Option ist und dafür sind Orchestermusiker das wohl beste Beispiel: Abgesehen von regelmäßigen und oft langen Konzerten und Auftritten sind da noch die Proben. All das ist nicht besonders gesundheitsförderlich, denn die meisten Orchesterinstrumente erfordern eine suboptimale Körperhaltung. Besonders die, die in sogenannten asymmetrischen Positionen gespielt werden,wie mit erhobenen Armen, sind oft der Grund für die relativ häufig auftretenden Muskel-Skelett-Erkrankungen bei professionellen Orchestermusikern.

Trotzdem sind Musikerstühle bisher wenig untersucht worden, zumindest im Gegensatz zu ihren Bürokollegen. Untersuchungen zeigen, dass im Gegensatz zu den meisten Musikern den meisten Büroangestellten bewusst ist, welche Vorteile ein gut designter Stuhl hat und wie er den Problemen, die mit langem Sitzen verbunden werden, entgegenwirken kann. Musiker akzeptieren Schmerzen oft als Teil ihres Jobs, was absurd ist. Nicht zuletzt, weil es Stühle gibt, die auf die Bedürfnisse von Musikern abgestimmt sind.

Festhalle Harmonie Heilbronn, (Photo Wilde+Spieth)

Festhalle Harmonie Heilbronn, (Photo Wilde+Spieth)

Einer der größten Hersteller von Orchesterstühlen in Europa ist Wilde+Spieth. Egon Eiermann beauftragte das Unternehmen, das eigentlich Fensterrollläden herstellte, 1948 damit, maßgeschneiderte Jalousien für eines seiner Projekte zu fertigen und fragte ganz nebenbei: „Kinderchen, könnt ihr auch Stühle bauen?“ Sie konnten, und so designte Egon Eiermann eine Kollektion von etwa 30 Stühlen für Wilde+Spieth, darunter Werke wie der SE 18, der SE 42 oder der SE 68. 1956 folgte ein Orchesterstuhl, auf dessen Basis Wilde+Spieth viele weitere Stühle für verschiedene Instrumente und Spielpositionen entwickelten und die u.a. von der Berliner Philharmonie, der Metropolitan Opera New York, dem Festspielhaus Bayreuth oder der Elbphilharmonie Hamburg genutzt werden, für die Wilde+Spieth gemeinsam mit dem in Bremen ansässigen Designer Oliver Niewiadomski eine neue akkubetriebene und funkgesteuerte Notenpultleuchte entwarfen.

Um mehr über die Besonderheiten von Orchesterstühlen, Orchestermusikern und den gegenwärtigen Markt für Orchesterstühle zu erfahren, haben wir uns mit Wilde+Spieths CEO Thomas Gerber getroffen und ihn zuallererst gefragt, wie das Unternehmen darauf kam, Orchesterstühle herzustellen.

Thomas Gerber: Im Jahr 1956 benötigte Egon Eiermann Stühle für ein Musiksaalprojekt in Stuttgart. Etwas Passendes war nicht zu finden und so nahm er im Grunde genommen den SE 68 und versah ihn mit etwas Polsterung – fertig war der Stuhl. Die Reaktion der Musiker lautete überwiegend: „Nett, aber wir wollen es anders“, was verständlich ist, vor allem wenn man bedenkt, dass unterschiedliche Instrumente sehr unterschiedliche Anforderungen stellen und verschiedene Sitzpositionen erfordern. Für Wilde+Spieth war also die Mitarbeit an diesem Projekt der Beginn der Entwicklung von Stühlen für Musiker, das heißt von Stühlen, die auf die unterschiedlichen Anforderungen der Musiker eingehen.

smow Blog: Und verlief diese Entwicklung dann gemeinsam mit Musikern?

Thomas Gerber: Genau, gemeinsam mit den Musikern haben wir mit der Entwicklung begonnen und versucht, die Stühle weiter zu perfektionieren, auch wenn die Möglichkeiten dabei in vielerlei Hinsicht beschränkt sind. Im Programm haben wir heute deshalb nicht höhenverstellbare Stühle, die überwiegend auf dem SE 68 basieren, jedoch mit einer besonderen Polsterung versehen sind; aber auch höhenverstellbare Stühle und Modelle, bei denen man den Sitzwinkel sowie Höhe und Winkel der Rückenlehne verstellen kann, um die Sitzposition entsprechend des jeweiligen Instrumentes zu optimieren. Man muss auch bedenken, dass, sieht man mal von den Musikern und allen anderen wichtigen Leuten im Orchestergraben ab, die Stühle gestapelt, gelagert, transportiert, aufgestellt und weggestellt werden müssen, und dass so schnell und effizient wie möglich. Solche Fragen müssen also auch in Betracht gezogen werden.

smow Blog: Sie haben die Polsterung erwähnt, inwiefern muss die an die Anforderungen von Orchestermusikern angepasst werden?

Thomas Gerber: Wir nutzen ein Gummihaar-Sitzpolster, grundsätzlich, um die Beseitigung von Feuchtigkeit zu optimieren. Zudem sind die Sitze mit Belüftungslöchern versehen. Orchestermusiker schwitzen verhältnismäßig schnell, deshalb ist es wichtig, dass die Polsterung auch nach mehreren Stunden des Sitzens trocken bleibt. Zudem behalten die Sitze dank des Gummihaars ihre Form und entwickeln beispielsweise keine Sitzmulden, wie das bei Schaumstoff der Fall ist. So wird die Lebensdauer des Stuhls verlängert.

smow Blog: Kann man die Entwicklung von Orchesterstühlen mit der von Bürostühlen vergleichen, wir denken da insbesondere an die technischen Vorteile…?

Thomas Gerber: In den 1970er-Jahren war Wilde+Spieth einer der führenden Produzenten von Bürostühlen. Eine Menge der Technologie in unseren Orchesterstühlen kam von diesen Bürostühlen. Bei den Bürostühlen war eine der bedeutendsten Weiterentwicklungen die Verwendung von pneumatischen Federn, die haben allerdings zwei Schwachstellen: Erstens sind sie nie hundertprozentig stabil, es gibt immer etwas Spiel. Bei einem Bürostuhl ist das irrelevant, bei einem professionellen Musiker hingegen ein echtes Problem. Sehr problematisch ist außerdem, dass pneumatische Federn früher oder später Geräusche machen. Deshalb nutzen wir bei unseren Orchesterstühlen ein Keil-und-Hohl-System für die Höhenverstellung, das 1949 entwickelt wurde. Das klingt erstmal lächerlich, wenn man an die Technologie von Bürostühlen denkt, aber es funktioniert, hat sich bewährt und wenn es richtig gewartet wird, hält das System für immer. Bei der Entwicklung unserer Orchesterstühle befassen wir uns also beispielsweise sehr viel mit den Materialien und damit, die Geräuschemission so niedrig wie möglich zu halten.

smow Blog: Angefangen hat alles mit Egon Eiermann, war er an diesen Weiterentwicklungen beteiligt?

Thomas Gerber: Anfangs war Egon Eiermann sehr involviert, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt als die Stühle begannen, sich vom SE 68 zu entfernen. Eiermann hatte also mit den zahlreichen höhenverstellbaren Stühlen nichts zu tun. Das Design der Orchesterstühle ist verglichen mit der Ignieursleistung zweitrangig. Die verbaute Technologie sieht einfach aus, allerdings ist der Eindruck trügerisch: Es steckt wirklich technische Raffinesse in den Stühlen. Über die Jahre haben Firmen versucht, unsere Technologie zu kopieren – keiner hatte damit Erfolg. Am Ende interessiert die Musiker nicht, wie so ein Stuhl aussieht – er muss komfortabel, stapelbar und langlebig sein. Fast am wichtigsten ist, dass er möglichst gar keine Geräusche macht.

smow Blog: Wir gehen mal davon aus, dass sich nicht nur die Anforderungen von anderen Sektoren unterscheiden, sondern vor allem auch der dazugehörige Markt anders funktioniert.

Thomas Gerber: Ganz anders! Der Vertrieb wird eigentlich ausschließlich mündlich abgewickelt. Unsere Stühle werden weltweit eingesetzt. Orchester gehen viel auf Tournee, wenn also ein Orchester, das unsere Stühle nicht benutzt, irgendwo zu Gast ist, wo sie eingesetzt werden, und sie unsere Stühle mögen, nehmen sie Kontakt auf. Das läuft alles sehr direkt ab. Zumindest in Europa. Für den außereuropäischen Markt sind Veranstaltungen wie beispielsweise die Musikmesse in Frankfurt sehr wichtig. Aber mal ganz absehen davon, wie man auf uns kommt: Im Gegensatz zu beispielsweise Kantinenstühlen oder Bürostühlen sind Orchesterstühle kein Produkt, bei dem man einfach jemandem einen Katalog schicken kann und dann den Preis aushandelt, vor allem, weil sie so spezifisch sind und die Leute sie an Ort und Stelle testen und ausprobieren wollen. Der Markt ist zudem sehr klein, es gibt nur wenige Hersteller und eine sehr spezifische Kundengruppe. Es handelt sich um eine Nische in der Nische gewissermaßen, kleiner geht es nicht.

smow Blog: Den Preis aushandeln ist ein gutes Stichwort, ist der Orchestermarkt im Vergleich zu anderen Sektoren besonders preissensibel?

Thomas Gerber: Der Kulturbereich ist grundsätzlich sehr preissensibel, und wir bemerken sehr schnell, wenn beispielsweise Budgets gekürzt werden, weil sich dann die Bestellungen verzögern. Professionelle Orchestermusiker werden allerdings lange ausgebildet und sind teuer. Wenn man also einen exzellenten Mitarbeiter in guter Übung gefunden hat, wird man alles tun, um sicherzustellen, dass er fit bleibt und sich wohl fühlt. Ein guter Stuhl ist dabei ein wichtiger Aspekt, den ein professionelles Orchester nicht ignorieren kann. Stellen Sie sich vor, Sie kommen am ersten Tag in ein neues Büro und man übergibt Ihnen einen alten Melkstuhl, so wollen Sie nicht empfangen werden und womöglich werden Sie nicht lange bleiben. Genauso verhält es sich mit professionellen Musikern.

smow Blog: Und noch kurz gegen Ende: Der Markt ist klein, aber gesund, oder…?

Thomas Gerber: Europa ist langsam und in Deutschland wird beispielsweise kaum eine Konzerthalle gebaut, eher das Gegenteil ist der Fall: Wenn Budgets gekürzt werden, müssen Häuser schließen. Außerhalb Europas ist das Marktgeschehen interessanter. Argentinien, Chile und Japan beispielsweise sind momentan sehr interessant. In China wiederum explodiert der Markt förmlich: Dort werden momentan ca.1000 neue Konzerthallen im Jahr gebaut. In Europa sind es im Vergleich dazu nicht mehr als fünf oder sechs im Jahr, höchstens. Unser Fokus als Firma liegt also zunehmend auf dem außereuropäischen Markt.

 

SE 68 von Egon Eiermann für Wilde+Spieth (Photo Wilde+Spieth)

SE 68 von Egon Eiermann für Wilde+Spieth (Photo Wilde+Spieth)

Wilde+Spieth Bassstuhl (Photo Wilde+Spieth)

Wilde+Spieth Bassstuhl (Photo Wilde+Spieth)

Boulez Ensemble Berlin (Photo © Peter Adamik , via Wilde+Spieth)

Boulez Ensemble Berlin (Photo © Peter Adamik, via Wilde+Spieth)

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