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Unsere Stadtplanung ist gescheitert – und jetzt?

Warum fühlen wir uns in unseren Städten nicht mehr zu Hause? Weshalb sind die Orte, an denen wir wohnen und arbeiten, so leblos? Lösungsansätze für unsere Probleme bietet ausgerechnet das Mittelalter.

In den „Zahmen Xenien“, dem Meisterwerk seiner späten Jahre, schreibt Goethe wie ein Stoßseufzer: „Gern wär’ ich Überlieferung los und ganz original.“ Man sieht das Missvergnügen des alten Dichters zu wissen, dass Literatur immer aus Literatur gemacht wird, dass jeder schöpferische Mensch auf den Schultern von Riesen steht, jeder Gedanke schon einmal gedacht worden ist.

Aber dann mustert er seine Ahnenreihe und muss feststellen, dass er aus den Eigenschaften seiner Vorfahren ganz und gar zusammengesetzt ist, und muss sich fragen: „Was ist dann an dem ganzen Wicht“ – damit meint er sich selbst – „original zu nennen?“ Die Einsicht ist, dass er, der sich soeben die Befreiung von der Überlieferung ersehnt hat, sich eingestehen muss — „dass ich selbst Überlieferung bin“. Wir sind Überlieferung, wie sehr wir uns auch dagegen wehren mögen.

Ähnlich ergeht es uns mit unseren Städten. Viele, die wichtigsten davon, haben ein hohes Alter – dass eine bedeutende Stadt wie München erst knappe tausend Jahre alt ist, macht sie in Deutschland schon beinahe zum Emporkömmling.

Die Bindung der Bürger an ihre Stadt

Ihre Namen transportieren in manchmal seltsamen Verstümmelungen und Umformungen die Benennungen römischer Heerlager, keltischer Opferstätten und fränkischer Edelhöfe.

Allein durch die Namen mit ihren Assoziationen ist jede dieser Städte eine Persönlichkeit geworden, wie manche von ihnen einst selbstständige kleine Staaten waren, Republiken nach römischem Vorbild mit zwei gewählten Konsuln an ihrer Spitze und einem Senat. Sie hatten, wie Goethe es in „Dichtung und Wahrheit“ über seine Vaterstadt schreibt, ihr „tausendstel Anteil an der Souveränität“ des Heiligen Römischen Reiches.

Und was sie gemeinsam hatten mit ihren großen Vorbildern, den griechischen Poleis der Antike, das war die enge Bindung der Bürger an ihre Stadt: Die Stadt konnte ohne Verzicht auf gewichtige Rechte nicht einfach gewechselt werden, sie war das Schicksal ihrer Bewohner, die auf ihr Bürgerrecht stolz sein durften und die darum von denen, die keine Bürger waren, beneidet wurden.

Die Stadtmauer gab der Stadt die Form

Die Stadtluft, die von der Leibeigenschaft befreite, schuf neue Bindungen. Eng saß man aufeinander, denn der Raum innerhalb der Mauern war kostbar und nicht zu vermehren – Eigentum konnte deshalb daran nicht erworben werden, nur das Haus auf der gepachteten Parzelle war verkäuflich.

Überhaupt ist der Einfluss der Stadtmauer auf die Gestalt der alten europäischen Stadt nicht zu überschätzen. Sie gab dem Kuchen die Form, sie schuf die Plastik der Stadt, wie sie auf den Merianstichen so eindrucksvoll aufscheint – jede Stadt ist da gleichsam zur Hieroglyphe geworden, lesbar vom Betrachter wie die Chroniken ihrer Geschichte.

Im Inneren das zusammengepresste Gassengewirr und der Luxus der alten Städte, ihre Plätze und die Großbauten der Kirchen. Welche erhebende Emotion mit dem Betreten dieser Freiräume einst verbunden gewesen sein muss, kann man sich als Zeitgenosse raumverschwendender Riesenvolumina und landebahngroßer Aufmarschfelder kaum mehr vorstellen. Und über dem Ganzen wölbte sich als tönende Kuppel das Geläut der Kirchenglocken.

Eine deutsche Stadt als „Nabel der Erde“

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Als die Stadtmauern fielen, wurde das als Befreiung empfunden, gewiss, aber es war zugleich der Todesstoß für die Freiheit der Städte als eigenständige Staaten, als Societas perfecta einer sich selbst nicht nur genügenden, sondern an sich selbst übergenug habenden Polis.

Von solch einer Stadt spricht Hölderlin, der über Frankfurt sagt, wo er Glück und Demütigung erfuhr: „Frankfurt aber, nach der Gestalt, die Abdruck ist der Natur zu reden / Des Menschen nämlich / ist der Nabel dieser Erde, diese Zeit auch / ist Zeit, und deutschen Schmelzes.“

Mehr als viele Worte sagt die Vorstellung, eine deutsche Stadt könne „der Nabel dieser Erde“ sein, über die ästhetische Gestalt, die eine Stadt haben muss, um derart aufgefasst werden zu können. Jedenfalls nicht als hundert Kilometer langer Häuschen- und Gewerbegebietsbrei zwischen Mainz und Aschaffenburg.

Landschaftsentdecker als Stadtgründer

Wenn Hölderlin „Frankfurt“ sagt, erhebt ein Genius Loci sein Haupt, der aus einem gestalteten Steingebilde hervorkommt. Zur Skulpturhaftigkeit der alten Städte trägt bei, dass sie aus dem Holz, dem Kalk, dem Stein der Region erbaut sind, von der Region geboren, Fleisch von ihrem Fleisch.

Und bei dem delphischen Bild vom Nabel der Erde ist auch das Verhältnis der alten Stadt zu der sie umgebenden Landschaft mitaufgerufen. Die Kulturgeschichtler sprechen gern von der „Entdeckung der Landschaft“ – ob das nun bei Petrarca oder doch erst bei den Romantikern beginnt, wird da verhandelt.

Dabei ist evident, dass die Entdecker der Landschaft die Gründer der alten Städte waren, die ihre Siedlungen ja nicht irgendwohin setzten, sondern an Orte, die sie gleichsam abgehorcht hatten – an die Biegung eines Flusses, an eine Stelle, die eine natürliche Befestigung bot, auf eine überschwemmungsfreie Anhöhe, an eine geschützte Bucht.

Eine Stadt hat eine natürliche Größe

Erleben kann man das heute eigentlich nur noch in den Dörfern Italiens oder Südfrankreichs, die in ihrer steinernen Festungshaftigkeit eher etwas von der Stadt als vom Dorf haben; von den Millionenstädten sind es wohl nur New York und Istanbul, deren Lage auf Halbinseln von der Wasserseite jedenfalls eine Vorstellung davon vermittelt, wie eine Stadt edelsteinhaft in die Landschaft eingefügt werden konnte.

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Eine alte Stadt hatte aber auch ihre natürliche Größe, jenseits derer sie so ohne Weiteres nicht mehr wachsen konnte, so wie es auch für Äpfel und Birnen ein Ende des Wachstums gibt, mag der Züchter es auch noch ein wenig hinausschieben.

Alle paar Jahrhunderte wurde die Mauer zwar erweitert, aber es war klar, dass man die Stadt zu Fuß noch in vernünftiger Zeit durchmessen können musste, wenn sie weiterhin bewohnbar sein sollte.

Der Widerspruch der Metropolen

Auch ihre Ernährung setzte eine Grenze – ab einer gewissen Größe hätte genügend Nahrung aus dem Umland nicht mehr herbeigeschafft werden können. Begrenzungen überall, wenn wir die alten Städte betrachten. Sie sind Früchte der Begrenzungen und mussten sich innerhalb solcher Schranken einrichten. Und taten es in ingeniöser Weise. Aus der Begrenzung erwuchs ihre Individualität.

Die Stadt als Symbol der Zivilisation war gänzlich den Voraussetzungen unterworfen, die von der Natur regiert wurden, das ist das Geheimnis der alten Städte, ihr fruchtbar gewordener Widerspruch. Die Metropolen, die wir bewundern und als Inbegriff geglückter Urbanität ansehen, London, Paris und Rom, sind unter solchen Voraussetzungen entstanden und zehren von dem Kapital dieser Vergangenheit bis heute.

Wir müssen uns eingestehen: Wir führen ein anderes Leben als die Menschen, die die alten Städte hervorgebracht haben; wir wollen und können diesen Lebensstil nicht ändern; wir können uns ein anderes Leben nicht einmal vorstellen.

Innovation und ererbte Lebensweise

Aber dieser Lebensstil kann nicht leisten, worauf wir dennoch nicht verzichten wollen: Er ist nicht imstande, eine Stadt zu schaffen, die unseren ererbten und zugleich höchst lebendigen Vorstellungen von einer Stadt entspräche. Wir haben unsere Städte nicht gemacht. Und wir könnten etwas auch nur von fern Vergleichbares gar nicht schaffen.

Unsere Welt hat sich radikal verändert, aber sie ist nicht perfekt – es ragen Institutionen und Wirklichkeiten in sie hinein, die aus anderen Welten stammen und denen wir uns dennoch zutiefst verbunden fühlen. Die alten Städte bestimmen unsere Fantasie – ihre Wurzeln sind gekappt, aber sie sind dennoch nicht tot, sondern behaupten ein beunruhigendes Leben.

Sie haben ihren Maßstab in unser ästhetisches und soziales Empfinden eingebrannt, wo der nach den Prinzipien, denen wir uns unterworfen haben, eigentlich gar nichts mehr zu suchen hätte. Etwas Unmögliches wird von uns verlangt, wenn wir dem geheimen Befehl unseres Bildes vom gelungenen Leben gehorchen und die Städte retten wollen: Wir sollen Zeitgenossen sein, die alle Innovationen freudig und schöpferisch aufgreifen, und zugleich unseren Lebensraum, diese ererbten Städte, nach Gesetzen bewahren, die mit unserer Mentalität nur schwer vereinbar sind.

Zähigkeit trotz schwerster Beschädigung

Aber dies sind die Widersprüche, die ein Abzeichen gelebter Geschichte sind: Nur Ideologen glauben, dass jede Zeit aus einem Guss sei oder es zu sein habe. Obwohl es ein fühlloses Wüten gegen die alten deutschen Städte gegeben hat und immer noch gibt, beweisen sie ihre Zähigkeit und Lebenskraft noch in ihrer Zerstörtheit und schwersten Beschädigung.

Die riesigen Schlafstädte mit ihren Einkaufszentren, sie sind nirgendwo wirkliche Stadtviertel geworden. Sie besitzen keine Adhäsionskraft, kein spezifisches Gewicht, sie sind wie Zeltlager aus Beton, die für die Heerscharen der Landflüchtigen rund um die alten Stadtkerne aufgeschlagen worden sind.

Man führe sich nur einmal vor Augen, welche brutalen Kuren gerade die deutschen Städte seit dem Krieg hinter sich haben. Ist es angesichts des bestürzenden Zusammenwirkens alliierter Bomber und deutscher Planer und Architekten nicht, als ob die neue Zeit sich der Last der Vergangenheit ein für alle Mal entledigen wollte und dafür jeden zum Gehilfen nahm, der sich dazu anbot?

Altes Mauerwerk – für Jahrhunderte geschaffen

Nachdem die Altstädte vom Feuersturm aufgezehrt worden waren, begann ein akribisches Zerstörungswerk, um alles auszumerzen, was die Bombenkatastrophe überstanden hatte – und das war viel! Viel alte Substanz hatte die Flammenmeere überdauert, denn das alte Mauerwerk war für die Jahrhunderte geschaffen und von einer Festigkeit, die nach heutigem Maßstab von höchster wirtschaftlicher Unvernunft wäre.

Es war eben keine Wegwerfware, die für uns der wünschenswerte Ausdruck einer gesellschaftlich vorteilhaften Ökonomie geworden ist. Städte, die eine Technische Universität besaßen, wurden besonders geschlagen: Hier durfte sich der jeweils neueste technizistisch-antiurbane Wahn hemmungslos austoben.

Sechzig Jahre gescheiterte Stadtplanung liegen hinter uns, mit vielen neuen Kapiteln, die in ihrer Unbrauchbarkeit schnell entlarvt, aber leider nicht ungeschehen gemacht werden können. Wenn Stadtplaner versagen, ist das nicht, wie wenn eine Balletttänzerin falsch springt.

Planer mit der Gesinnung von Gärtnern

Der Psalmist lehrt: „Wenn der Herr nicht baut, bauen die Bauleute vergeblich.“ Was heißt das für eine Stadt, „wenn der Herr nicht baut“? Es heißt, dass das, was eine Stadt zur Stadt macht, nicht erzwungen und geplant werden kann. Dass städtisches Leben auf eine unbeherrschbare Weise entsteht. Dass man es sehr wohl behindern und gar vernichten kann, aber nicht ohne Weiteres herstellen. Dass das so ist, weil Leben – anders als heute gern geglaubt und erhofft wird – ein Geheimnis bleibt, und das gilt auch für das Leben einer Stadt.

Mit dem Wort „Planen“ verbindet sich die Vorstellung erhabener Weitsicht, von einem Überblicken der Zukunft, etwas Göttliches – der junge Schiller spricht in steiler Rhetorik von gewiss nicht freiwilliger Komik von „meiner Pläne stolzer Pyramide“. Unsere alten Städte in dieser Epochenwende brauchen einen vollständig anderen Planertypus – die stolzen Pyramiden von Flughafenhallen, die die Cheopspyramide mühelos in sich aufnehmen könnten, entstehen schon von allein.

Unsere Städte brauchen Planer, die zunächst einmal analysieren, was da ist, die sich dem vorgefundenen noch lebendigen Bestand unterwerfen, ihn mit der Gesinnung von Gärtnern behutsam pflegen, die nicht glauben, sie könnten sich ein anderes Denkmal als eines ihres Versagens setzen, jedenfalls, wenn es sich um ein sichtbares handelt: Die großen schöpferischen Leistungen auf dem Gebiet der Stadtplanung bestehen heute im Verhindern, im Unterlassen, im Verlangsamen – selbst triste Lösungen aus den Fünfzigerjahren gewinnen angesichts der investorgetriebenen Genehmigung maßloser Großprojekte inmitten des Altstadtraums eine gewisse Würde.

Städte des Mittelalters waren lebenswert

Deshalb darf und soll allem Planen ein utopisches Element eigen sein. Nur die Unmöglichkeiten entzünden die Fantasie, die vonnöten ist, um die herrschende Tristesse zu erleuchten.

Es gibt die beiden Utopien: die Zukunft und die Vergangenheit; während die Zukunft zu den wildesten Spekulationen einlädt und ihre imaginative Kraft weitgehend verloren hat – was sich Zukunftsforscher unter der „Stadt der Zukunft“ vorstellen, als Horrorvision oder als Paradies, man möchte es nicht erleben müssen. Was die Utopie der Vergangenheit angeht, so steht ihr immer noch eine intellektuelle Blockade, aufgetürmt aus bombenfestem Material der Halbbildung, im Wege.

Das für die Entstehung und die Prägung unserer Städte – auch wenn sie in der Antike wurzeln – gestaltgebendste Zeitalter, das Mittelalter, ist ein verteufeltes Wort geworden, obwohl man damit stets Komplexe bezeichnet, die mit dem Mittelalter gar nichts zu tun haben, ob es sich um die neuzeitlichen Hexenprozesse oder die Kinderarbeit im frühindustriellen Manchester handelt. Im Mittelalter sind die Prinzipien, die eine Stadt lebensfähig und lebenswert machen, am allerbesten aufgehoben.

Reiche und Arme mussten zusammenhausen

Ich sehe als einen Trumpf der mittelalterlichen Stadt an, dass in ihrer Gedrängtheit das Entstehen von Wohngebieten nach sozialen Gruppen unmöglich war: Die Reichen und die Armen mussten zusammenhausen; die Paläste standen in unmittelbarer Nachbarschaft neben baufälligen Katen.

Das war nebenbei Abzeichen einer ständisch organisierten Gesellschaft – es war der Demokratie vorbehalten, die sozialen Milieus räumlich fein auseinanderzusortieren, die trostlosen Massenquartiere zu schaffen und die in einer anderen Himmelsrichtung wie auf einem fremden Stern gelegenen Villenviertel in ihrer Sterilität und Ausgestorbenheit.

Auf die Frage, wie lange das Gemeinwesen eine solche Entfremdung, ein Sich-gegenseitig-nicht-mehr-Kennen der verschiedenen sozialen Schichten erträgt, soll hier keine Antwort versucht werden.

Wenn Bankhochhäuser einfach umbaut würden

In Kalkutta sieht man Paläste aus kolonialer Zeit, für einheimische Kaufmannsfamilien gebaut, die bis zum ersten Stock zugewachsen sind von Häuschen und Hütten, die sich an ihre Mauern geklebt haben; die klassizistischen Fassaden steigen aus einem Kranz von Behausungen auf, die unordentlichen Vogelnestern gleichen.

So sind die Großbauten der mittelalterlichen Stadt, die Kirchen, vielfach auch von unmittelbar an sie herangebauten kleinen Häusern umgeben gewesen; die Freistellung der Kathedralen ist absolut unklassisch und widerspricht dem Geist, der sie hervorgebracht hat.

Ich stelle mir die Bankhochhäuser unserer Administrationszentren vor, aus der Ferne manchmal schön anzuschauen, in ihrer Nähe dem Eukalyptusbaum gleichend, in dessen Schatten nichts mehr, kaum ein Grashalm gedeihen kann. Diese Hochhäuser bis in den zweiten Stock hinauf wild eingebaut – mit fragwürdigen Behausungen, kleinen Lädchen, offenen Küchen, die versiegelten Fassaden, die den Passanten abweisen, unversehens porös gemacht, wie ein Schwamm dazu befähigt, die Vorbeiflutenden in sich einzusaugen.

Die Städte brauchen eine Enge im Inneren

Verdichtung ist die Devise zur Bewahrung der Stadt. Statt im Umland nach weiteren Gewerbegebieten und Land für Wohnanlagen zu suchen, die den Unterschied zwischen Stadt und Land immer weiter zunichtemachen, stelle man die Enge im Innern wieder her.

Ich gebe zu, dies setzt etwas überaus Rares, vielleicht unmöglich zu Erlangendes voraus: den politischen Willen. Und dieser politische Wille hat wiederum eine Voraussetzung, die womöglich noch ferner von unseren Lebensformen liegt: ein Stadtvolk, das sich unverbrüchlich an seine Stadt gebunden fühlt.

Wo soll das herkommen? Wie groß ist der Anteil gerade der Angehörigen anspruchsvollerer Berufe, die in verschiedenen Städten leben und arbeiten? Wie groß der Anteil gerade der wirtschaftlich Kräftigen, die alle paar Jahre ihren Wohnort wechseln?

Die Stadt braucht Bürger, die sie schätzen

Es gibt deutsche Metropolen, die in fünf Jahren sozusagen einen Gesamtaustausch ihrer Bevölkerung erleben. Ein Vorstandsmitglied einer der Frankfurter Banken klagte darüber, dass es in der Stadt kein Restaurant gebe, in dem „man sich träfe“, auch ohne verabredet zu sein.

Ich sagte ihm: „Wenn Sie sich entschließen würden, ein- oder zweimal in der Woche in einem bestimmten Restaurant zu essen, dann würden Sie dort schnell mehr bekannte Gesichter sehen, als Ihnen immer lieb sein mag.“ Das war freilich eine unerfüllbare Bedingung, fern von jeder Aussicht auf Verwirklichung.

Da ist sie wieder, die Polis, mit oder ohne Antike, mit oder ohne Mittelalter. Die Stadt lebt, deren Bürger – ich sage bewusst nicht Einwohner – ein Bild von dieser Stadt in sich tragen, das noch mehr enthält als das, was konkret in ihr zu sehen ist, die sie, um es in hohem Ton, damit aber vielleicht einprägsamer zu sagen, als mythische Person erleben.

Soziale Sicherheit nur über die Heimatgemeinde?

Aber wie kann es gelingen, in einer Zeit gesteigerter Mobilität solche Anhänglichkeit zu erzeugen? Die schrankenlose Möglichkeit, uns an schönere Orte zu begeben, wenn unsere Heimatstadt zugrunde gerichtet worden ist, bietet uns schon heute einen Ausweg in der kurzen Lebenszeit.

Wer will schon Vorhaben verfolgen, die weit in eine Zukunft reichen, die man ohnehin nicht erleben wird und in der Kinder und Enkel, so überhaupt vorhanden, längst an anderen Orten der Welt leben werden?

Der Utopist hält nach politischen Modellen Ausschau, die derlei begünstigen würden. Er stellt sich eine Reform nach dem Vorbild der Schweiz vor: dass man nicht mehr Bürger Deutschlands wäre, wenn man einen deutschen Pass hätte, sondern Bürger einer ganz bestimmten Gemeinde, in der man lebenslang zu bleiben hätte, weil auch die soziale Sicherheit des einzelnen Bürgers ausschließlich über seine Heimatgemeinde gewährleistet wird. Dort erwartet ihn in der Not sein Asyl, nur dort sein Grab, wo immer er sich sonst aufgehalten hat.

Sehnsucht nach einer friedlichen Gemeinschaft

Jedenfalls scheint es mir klar, dass nur Bürgern, die ihrer Stadt wirklich verhaftet sind – das Gefängnisassoziationen weckende Wort ist bewusst gewählt –, dauerhaft ein Bewusstsein eigen sein wird, dass die gemeinsame Stadt mehr ist als eine verkehrsgünstig gelegene Verwaltungseinheit, mehr als ein Gelände für Immobilien-Investitionen, mehr als eine Agglomeration aus Arbeitsplätzen, Kindergärten und Krankenhäusern nebst gigantischen Warenlagern.

Es hört nicht auf, mich zu beschäftigen, dass in der geheimen Offenbarung des Johannes das Bild der neuen Welt nach dem Jüngsten Gericht, das Bild der erlösten Menschheit, in deren Mitte Gott wohnt, eine Stadt ist, das himmlische Jerusalem, also nicht mehr der Paradiesgarten des Anfangs, und zwar eine Stadt mit Mauern und zwölf Toren, obwohl doch jeder Krieg und jede Bedrohung von außen ein Ende hat, ja, dies ewige Jerusalem wird sogar durch seine Mauern definiert.

In diesem Bild drückt sich die Sehnsucht nach einer friedlichen Gemeinsamkeit der Menschen aus, die diesen Frieden in einer gemeinsamen Form gefunden hat.

Ich glaube an die Nahrhaftigkeit von Utopien und wünschte mir, dass alle, die in und an unseren Städten weiterbauen, diese Sehnsucht nicht gänzlich in Resignation und Zynismus untergehen ließen.

Schriftsteller Martin Mosebach ist Träger des Georg-Büchner-Preises. Zuletzt erschien sein Roman „Das Blutbuchenfest“ (Carl Hanser Verlag, 2014, 448 Seiten, 24,90 Euro).

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