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Debatte Leitartikel

Nahles fährt rückwärts

Chefökonomin
Internet und Automatisierung verändern die Arbeitswelt dramatisch. Das bietet viele Chancen. Doch die Bundesregierung will um jeden Preis die alte Ordnung am Arbeitsmarkt wiederherstellen

Für die einen ist sie ein gefährlicher Jobkiller, für die anderen die Erfüllung eines Menschheitstraums: die Digitalisierung der Arbeitswelt. Der Wandel erfasst immer mehr Wirtschaftsbereiche und beflügelt die Fantasie von Gewerkschaftern und Managern ebenso wie von Forschern und Politikern. Selbstfahrende Autos, pflegende Roboter und lernende Maschinen machen den Menschen zwar nicht überflüssig. Doch viele Berufe ändern sich durch Internet und Automatisierung radikal. Unter dem sperrigen Schlagwort Industrie 4.0 müht sich die Bundesregierung, die Vernetzung voranzutreiben. Schließlich hängt der künftige Wohlstand der Deutschen maßgeblich davon ab, ob es gelingt, den Wandel erfolgreich zu gestalten.

Für die Arbeitnehmer brechen mit der Digitalisierung neue Zeiten an. Wer bereit und in der Lage ist, sich an die veränderten Anforderungen anzupassen, hat die Chance auf mehr Selbstbestimmung und höhere Einkommen. Denn der Anteil langweiliger Routinearbeit in Büros und Fabriken wird schrumpfen. Dank moderner Kommunikationstechnik lassen sich immer mehr Jobs überall erledigen. Der Webdesigner kann in der Eisenbahn ebenso wie im Büro oder im Homeoffice seine Auftragsarbeit anfertigen oder neue Kunden akquirieren. So verschwimmt in Zeiten des Internets nicht nur die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Auch entwickeln sich neue Beschäftigungsformen, und die Trennung zwischen Arbeitnehmer und Selbstständigen verwischt. Denn je mehr die standardisierte Arbeit von Maschinen erledigt wird, desto mehr müssen die Erwerbstätigen zu Agenten ihrer eigenen Arbeitskraft werden. Die Leistung wird dann nicht mehr in der Zahl geleisteter Wochenstunden gemessen, sondern am Erfolg eines Projekts.

Sicher wird nicht alles digitalisiert, was digitalisiert werden kann. Ob sich die Deutschen demnächst ebenso wie die Japaner von einer sprechenden Maschine pflegen lassen wollen, wird sich zeigen. Und auch der Lehrer wird nicht durch elektronische Medien ersetzt werden. Klar ist jedoch, dass die Welt eine neue industrielle Revolution erlebt. Bislang stehen die Deutschen hier zwar leider keineswegs an der Spitze, sondern müssen sich eilen, um nicht den Anschluss an die USA oder asiatische Länder zu verpassen. Doch auch hierzulande sind viele Unternehmen schon in beachtlichem Tempo Richtung Zukunft unterwegs. Umso absurder ist es, dass Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles seit ihrem Amtsantritt mit Volldampf in die Gegenrichtung marschiert. Mit immer neuen Regulierungen betoniert die Sozialdemokratin den Arbeitsmarkt mehr und mehr ein. Ihre jüngsten Gesetzespläne zur Einschränkung von Zeitarbeit und Werkverträgen zeigen, dass für Nahles nur die reguläre Vollzeitstelle ein guter Arbeitsplatz ist. Dass die hochgradig arbeitsteilige Wirtschaft mehr denn je auf flexible Beschäftigungsformen angewiesen ist, schert die Ministerin wenig. Denn Nahles will die alte Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wiederherstellen. Schon der gesetzliche Mindestlohn sollte diesem Zweck dienen. Auch Befristungen würde die Sozialdemokratin gerne einschränken und Frauen aus der vermeintlichen Teilzeitfalle befreien. Alle Abweichungen vom unbefristeten Vollzeitjob werden als prekär abgewertet. Denn sie passen nicht zu der Arbeitsmarktordnung, die sich Andrea Nahles wünscht.

Doch die Arbeitswelt im 21. Jahrhundert braucht nicht die Regulierungen von gestern. Das stete Zurückdrehen der Hartz-Reformen engt die Möglichkeiten der Betriebe ein, auf die Anforderungen der Digitalisierung zur reagieren. Der rasante Strukturwandel ist schließlich mit erheblicher Unsicherheit verbunden. Unternehmer müssen neue Wege ausprobieren können und sind deshalb bei der Organisation der Beschäftigung auf Flexibilität angewiesen. Doch auch aus Sicht der Erwerbstätigen sind flexible Beschäftigungsformen keineswegs mit Missbrauch und Ausbeutung gleichzusetzen. Schließlich verdingen sich auch hoch bezahlte Ingenieure und IT-Kräfte als Zeitarbeiter oder bieten ihre Dienstleistung auf eigene Rechnung an. Sie sind keine Opfer, die der Betreuung durch Gewerkschaften bedürfen, sondern Trendsetter in einem immer komplexeren Wirtschaftsgeschehen. Und in Zeiten des Fachkräftemangels sind die Erwerbstätigen, die das begehrte Know-how zu bieten haben, in einer besseren Verhandlungsposition als jemals zuvor.

Die eigene Arbeitskraft zu vermarkten, mag heute für das Gros der Beschäftigten schwer vorstellbar sein. Schließlich hat man sich über Jahrzehnte daran gewöhnt, das Aushandeln der Konditionen den Gewerkschaften zu überlassen. Doch die Macht der Tarifverträge erodiert. Zahlreiche Internetfirmen, die als kleine Start-ups im Hinterhof anfingen und nun erfolgreich expandieren, setzen auf neue Formen der Selbstständigkeit. Statt Mitarbeiter hat man Geschäftspartner, die am Gewinn ebenso wie am Risiko beteiligt sind. Und auch in der Old Economy nimmt die Tarifbindung ab. Viele Unternehmen gliedern nicht nur Kantinen und den Putzdienst aus, sondern auch die Produktentwicklung und den Vertrieb. Einstige Abteilungsleiter sind mit einem Male Unternehmer. Ganz neue Geschäftsbeziehungen entstehen zudem über das Internet. Sogenannte Plattformarbeiter bieten oft als Ich-AG ihre Dienstleistungen an und werden von Betrieben und Privatleuten gebucht.

Nicht nur Gewerkschafter, sondern auch Politiker sehen die neuartigen Beschäftigungsformen höchst kritisch und wollen sie mit aller Macht in die bestehenden Systeme des Arbeitsschutzes und der sozialen Absicherung zwängen. So will man Soloselbstständige zwangsweise in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen, obwohl man damit vielen Gründern enorme finanzielle Lasten aufbürdete. Statt den unsinnigen Versuch zu unternehmen, die neue Arbeitswelt an die Bismarck’sche Sozialversicherung anzupassen, sollte der Gesetzgeber umgekehrt lieber den Sozialstaat fit für die Zukunft machen. Der Staat sollte sich – anstatt immer neue Leistungen zu gewähren – darauf beschränken, eine Mindestabsicherung zu organisieren und den Rest den Erwerbstätigen überlassen. Denn das Gros der Menschen, ob angestellt oder selbstständig, ist durchaus fähig, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Die Digitalisierung könnte für die Bürger die Chance sein, sich vom überfürsorglichen Staat zu emanzipieren.

dorothea.siems@weltn24.de

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