Grosse Stadt, was nun?

Sie machen süchtig nach dem schönen Versprechen Globalisierung: Peter Bialobrzeskis Fotografien sind Zeitzeugen urbaner Geschichte – oder der Megalopolis in ihrer bestürzenden Realität.

Daniele Muscionico
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Die Megalopolis vom Reissbrett: Hongkong aus Peter Bialobrzeskis Perspektive. (Bild: Peter Bialobrzeski)

Die Megalopolis vom Reissbrett: Hongkong aus Peter Bialobrzeskis Perspektive.
(Bild: Peter Bialobrzeski)

Er ist der Albrecht Dürer der Städte und der Modern Times: Der deutsche Fotograf Peter Bialobrzeski porträtiert menschliche Habitate wie der Ältere Geistliche porträtiert hat, Fürsten oder das Leben der Madonna – historische Persönlichkeiten, festgehalten für die Nachwelt. Bildende Kunst als intellektuelle Disziplin.

Bialobrzeskis Persönlichkeiten sind Stadt-Persönlichkeiten. Er ist als Fotograf teilnehmender Beobachter und wissenschaftlicher Zeitzeuge. Denn was er porträtiert, hält Geschichte fest und die Momente, in denen sie entsteht und vergeht. Menschen finden nicht statt in seinen Bildern, oder dann nur als wortwörtliche Randerscheinung. Mit Menschen wird verfahren, und das Verfahren heisst Globalisierung.

Das will formale Präzision, analytische Tiefenschärfe, einen Hang zur Opulenz, der eigenen Begeisterung wegen – doch auch das Ansinnen, sich jeglichen Kommentar zu versagen. Schöne Absicht, missglückte Absicht. Wer vor einem Dürer steht, wer vor einem Bialobrzeski steht, braucht keine Erklärungen – er steht auch so in Flammen. Beim Jüngeren brennt das Versprechen der Megalopolis in ihrer bestürzenden Realität.

Der Neon-Tiger brüllt

«The City» heisst der Catwalk für den Klassiker der Dokumentarfotografie, den Romano Zerbini in der Photobastei eingerichtet hat. Aufgeblättert wird eine Auswahl der Besten aus Bialobrzeskis besten Serien.

Dabei ist «Neontigers», natürlich, es ist die Serie aus Südostasien – Masterplan trifft Baustelle, futuristisches Hochhaus ragt aus dem Slum –, die ihn berühmt gemacht hat. «Neontigers» (2004) war Bialobrzeskis erster und bahnbrechender Stadt-Essay, eine glänzende Hommage auf die Stadtmoloche in den Tigerstaaten.

Die Serie «Lost in Transition» folgt den Spuren der Ortlosigkeit und verzichtet auf jede Ortsangabe. Sie zeigt das Verschwinden von Räumen und ihrer Funktionen am Beispiel der Post, der Kirche, der Fabriken und deren Umwertung – von Industrien zu Shoppingmalls, von Slums zu Leisure-Parks. Es sind Fotos, die sich als Krisenkommentare lesen.

Krisenkommentare erreichen uns aber auch aus dem gegenwärtigen Griechenland. Statt Dubai zu fotografieren, sein ursprünglicher Plan, folgte Peter Bialobrzeski 2015 der Tagesaktualität und zog ins Epizentrum der europäischen Krise, nach Athen. Nach Hause brachte er das fotografische Tagebuch einer griechischen Tragödie und ihren Niederschlag im Stadtbild. (Die NZZ hat es vorgestellt.)

Verwilderung der Zivilisation, wo Brachen in Schanghai zu Ökotopen werden – aus Peter Bialobrzeskis Serie «Neontigers». (Bild: Peter Bialobrzeski)

Verwilderung der Zivilisation, wo Brachen in Schanghai zu Ökotopen werden – aus Peter Bialobrzeskis Serie «Neontigers». (Bild: Peter Bialobrzeski)

Weitere fotografische Krisenkommentare bilden ein anderes Kapitel in der Ausstellung, die «Case Study Homes». Es sind die Porträts der aus Zivilisationsmüll gebauten ersten provisorischen – später meistens dauerprovisorischen – Behausungen von Flüchtlingen, «vernacular architecture» nennt sie der Urbanist.

Wovon träumt ein Android?

Die Serie «Paradise Now» wiederum zeigt die Rückeroberung der Natur in den Mega-Citys. Es ist eine Art Verluderung und Verwilderung der Zivilisation, wenn sich Brachen unter Autobahnbrücken zu Ökotopen entwickeln und sich dort ansiedelt, was noch bescheidener ist, noch anspruchsloser als der Mensch. Dieser leistet bei Bialobrzeski Widerstand in der Serie «Nail Houses», protestierende Trutzburgen gegen den Turbo-Urbanismus. Die «Nagelhäuser» des Fotografen stehen in der untergehenden Altstadt von Schanghai.

Man kann das Ergebnis auf eine schnittige Formel bringen: Die Ausstellung «The City» lohnt den Besuch, weil man sie wieder verlassen kann! Denn zur eigenen Entlastung wird bei einem Rundgang mitgedacht: Draussen vor der Tür steht das heile Gegenbild einer Entwicklung, die wir nur aus der Ferne kennen. Und keiner, der die Tür wieder aufstösst, wird das bedauern.

In der Ausstellung träumen Androiden-Bewohner in Städten in scheinbar anderen Galaxien nachts von elektrischen Schafen. In Bialobrzeskis Bildern wartet Blade Runner auf feindliche Replikanten mit einer implantierten künstlichen Intelligenz.

In der Ausstellung findet die Zukunft statt. Vor der Tür aber ist nicht einmal morgen, sondern erst gestern – denn wir sind ja in Zürich: Dörfliche Beschaulichkeit trifft weltstädtische Attitüden.

Weltstädtisch? Vor den Bildern Bialobrzeskis wirkt Zürich als Puppenheim. Weltstädte, das sind die porträtierten – Athen, Hongkong, Manila, Schanghai. Oder ist Schanghai vielleicht Hongkong oder Kuala Lumpur?

Ein Osterei wie das andere

Vor allem die futuristischen Moloche Südostasiens gleichen sich wie ein Osterei dem anderen in ihrem aprikosenfarbigen Strampelanzug, den sie nachts tragen im gleissenden Licht der Wohnwaben.

Bialobrzeski fotografiert analog und ausnahmslos bei Dämmerung oder bei Nacht, er nutzt das Licht, das die Städte selbsttätig herstellen. Wie lange sie das etwa in China noch tun und auch nachts hell sein werden, ist ungewiss.

Die Pläne der Regierung sind gross: Die Zahl der 120 Millionenstädte soll bis 2025 verdoppelt werden. 400 Millionen Menschen, Bauern zumeist, würden bis 2030 in Grossstädte umgesiedelt.

Wo sollen sie leben, vielleicht sogar wohnen – und wie? Bei allem Versuch Bialobrzeskis, dazu keine Stellung zu beziehen, sondern mit einem Zustandsbeschrieb lediglich Fakten zu liefern: Es muss ihm misslingen.

(Bild: Peter Bialobrzeski)

(Bild: Peter Bialobrzeski)

Die Konditionierung und Sozialisierung westlicher Glückskinder, wie wir es sind, führt dazu, dass wir vor seinen Bildern in die Knie gehen müssen.

Das Rohe und das Gekochte

Trostreich ist indessen: Bialobrzeskis Verfahren lässt sich auch als eine Weiterführung der Gedanken von Claude Lévi-Strauss lesen, dem Hohepriester des Strukturalismus. Seine Serie «The Raw and the Coocked», ein Übertitel, mit dem der Fotograf direkt Lévi-Strauss zitiert, spannt den Bogen von ersten, provisorischen Hütten, die sich Menschen in einer neuen Umgebung errichten, bis hin zur glänzenden Reissbrett-Siedlung, wie sie heute in Südostasien steht.

Diese Entwicklung macht Ähnlichkeiten sichtbar. Aus der Evolution der Städte erschliesst sich sozusagen eine globale, weil menschliche Grammatik der Stadt, und diese zeigt, was auch Lévi-Strauss meinte: Kultur ist Syntax. Im Vergleich der verschiedenen Kulturen ähneln sich die Unterschiede und nicht die Ähnlichkeiten.

Damit schliesst sich der Kreis auch in der Person von Bialobrzeski und in seinem Interesse für den Gegenstand. Die Geburtsstadt Wolfsburg hat ihn künstlerisch sozialisiert und ästhetisch imprägniert.

Wolfsburg ist die Stadt, die Adolf Hitler als Hinterhof seiner Auto-Industrie gründen liess. Und die NS-Musterstadt und Reissbrett-Siedlung ist bis heute ein Wurmfortsatz eines Industriebetriebs geblieben.

Die Unterschiede der deutschen Traurigkeit hier und der Seelenleere von Planstädten auf der Südhalbkugel sind nicht zu übersehen. Aber, ob das die Sache besser macht? Und den Fortschrittsglauben stärker?

Peter Bialobrzeski: The City, Photobastei, Sihlquai 125, Zürich, bis 15. Januar 2017. (Betriebsferien von 19. bis 25. Dezember.)