1. Blick durch die Scheibe eines Seminarraums des Hasso-Plattner-Instituts während eines Workshops zum Design Thinking / Foto: Daniel Pilar

Zwischen Post-Its, Lego und Fritz-Kola

Von PHILIPP KROHN
1. Blick durch die Scheibe eines Seminarraums des Hasso-Plattner-Instituts während eines Workshops zum Design Thinking / Foto: Daniel Pilar

16.04.2018 · Die neue Gründerzeit bringt Konzerne in Not. Selbst biedere Versicherer oder Technikunternehmen wollen auf Biegen und Brechen kreativ werden. Eine Methode verbreitet sich unheimlich schnell: Design Thinking. Einblicke in die Spielecke.

D ieser Besuch soll einen Blick durchs Schlüsselloch in die Zukunft freilegen. Kein geringer Anspruch für das Team MO14, das seit zwei Monaten in einem Altbau in der Wiesbadener Innenstadt residiert. MO steht für Mobilität und Moritzstraße, 14 ist die Hausnummer. In den Nachbargebäuden bieten Frisöre, Cafés und orientalische Restaurants ihre Dienste und Waren an.

MO14, das Lab der R+V Versicherung, will innovativ sein – an einem Ort, wo Menschen sind und nicht dort, wo man die Konzernzentrale hingebaut hat. Innendrin riecht und schmeckt und sieht es nach Start-up aus. Fritz-Kola im Kühlschrank, ein Kickertisch zum Ausspannen, farbige Post-It-Zettel an den Wänden. Zweihundert Quadratmeter zum kreativen Austoben.

Es ist der 1. November 2016. An diesem Tag sollen Mitarbeiter der R+V-Zentrale erfahren, was die sechs Leute von MO14 so treiben. Begriffe wie Design Sprints, Prototypen, Purpose, Team-Branding fallen. In einem Manifest, das sich das Team gegeben hat, steht: „Alles ist möglich.“ Man reibt sich verwundert die Augen. Die R+V ist und bleibt schließlich ein Versicherer, solide und langweilig – auch wenn ein halbes Dutzend ihrer Mitarbeiter jetzt bunte T-Shirts trägt, sich alle duzen, das Erdgeschoss Atelier heißt und die Vorstellung als „Coffee Talk“ angekündigt ist. MO14 hat jedenfalls eine große Aufgabe erhalten: Das Team soll klären, was der Wandel der Mobilität für das Versichern bedeutet. Dafür hat es ein Jahr Zeit. Es ist interdisziplinär zusammengesetzt: Spartenwissen soll sich mit Risiko-Know-how und IT-Verständnis paaren. Hierarchien gibt es nicht. „Wenn die Mega-Idee, die unsere Branche revolutioniert, im Freibad entsteht, ist das auch gut“, sagt Marc-Oliver Matthias, der das Lab verantwortet.

Design-Thinking bei Bosch Video: FAZ.NET

In Deutschland ist eine Gründerwelle im Gange. Auf der einen Seite tatsächliche Neugründungen – Start-ups, die sich mit Risikokapital auf ihren Märkten etablieren wollen. Auf der anderen Seite Konzerne, die kleine Schnellboote gründen, wo multidisziplinär Lösungen entstehen. Sie setzen auf Design Thinking, das von Designern entwickelt, aber nie systematisiert wurde, bis der amerikanische Ingenieurswissenschaftler David Kelley daraus eine allgemeingültige Innovationsmethode ableitete. Über den SAP-Gründer Hasso Plattner, der wie Kelley in Stanford lehrt, fand die Idee ihren Weg nach Europa. Das Hasso-Plattner-Institut ist das deutsche Zentrum der Bewegung.

„Eine Firmenkultur zu schaffen ist so wie Gärtnern“ sagt Axel Unger im F.A.Z.-Interview

Axel Unger ist Partner und Managing Director der 1991 gegründeten Innovationsberatung IDEO und arbeitet dort seit 1995. Foto: IDEO

Mehr Lesen
Herr Unger, machen ein bisschen Lego und ein paar Post-Its ein Unternehmen schon innovativer? Das glaube ich nicht. Design Thinking hat gewisse Werkzeuge. Aber in erster Linie ist es eine Haltung und eine Herangehensweise, die in der Wirtschaft bislang nicht üblich war. Es ist keine lineare Methode, die von A zu B zu C führt. Natürlich verwenden wir zur Unterstützung Post-Its und besondere Möbel. Aber das sind nur Äußerlichkeiten.

Verführt das nicht zu dem Glauben, mit dem Wechsel der Möbel könne man automatisch innovativer werden? Dass ein Hype entsteht, ist bei allen Dingen so, die erfolgreich sind. Mein Arbeitgeber IDEO macht das seit gut 40 Jahren. Jetzt kommt in anderen Unternehmen langsam an, dass das ein hilfreiches Werkzeug sein kann. Denn die Welt wandelt sich rasend und Geschäftsmodelle veralten schnell. Für uns ist es schön zu sehen, dass man unserer Methodik zutraut, Unternehmen dabei zu unterstützen.

Was ist der Kern des Prozesses? Für uns ist Design Thinking ein Mindset, also eine Herangehensweise. Der Wert besteht darin, sich in einer sich immer schneller wandelnden Welt den Herausforderungen als multidisziplinäres Team zu stellen und neue Lösungen zu finden. Die Herangehensweise beinhaltet zwei zentrale Themen: Erstens sollte der Mensch im Mittelpunkt stehen, egal ob als Kunde oder als interner Mitarbeiter – und zwar am Anfang der Reise und auch später, wenn man Ideen testet. Zweitens sollten Ideen schnell greifbar gemacht und getestet werden. Die Teams müssen sich die Frage stellen, wie sie Prototypen erstellen können, um ihre Idee zu testen. Das gilt nicht nur für Produkte und Hardware, sondern auch für Dienstleistungen und Geschäftsmodelle.

Ist es nicht anmaßend, wenn Designer Unternehmen in der Rolle eines Beraters Empfehlungen geben? Für mich ist diese Entwicklung auch eine Reise. Aber schnell neue Lösungen zu gewinnen, war schon immer der Kern von Design. Wir sind es gewohnt, etwas für jemand anderen zu entwickeln. Dafür muss man empathisch sein und die Kundenbedürfnisse erkennen. Auch Prototypen zu machen ist dem Design eigen. Vor gut drei Jahrzehnten begann es, dass Designer auch für andere Fragestellungen eingesetzt wurden: Was könnten ganz neue Produkte sein? Designer wandten also die Methode auch für viel komplexere Probleme an. Das hat sich bewährt. Designer waren schon immer Fragesteller und haben in die Zukunft geschaut.

Durch den Erfolg von Apple sind die Themen Kundenzentriertheit, Haptik und Optik eines Produkts in den Mittelpunkt gerückt. Ist es ein Zufall, dass gerade jetzt Design Thinking zu einem so viel eingesetzten Instrument wird? Natürlich sind die Apple-Produkte durch eine tolle Optik aufgefallen. Man darf aber nicht vergessen, dass Apple früher als andere Unternehmen gefragt hat, wie man Technik interessant, relevant und wünschenswert macht, ohne dass der Mensch diesen Wunsch artikulieren würde. Das macht Design aus: Neue Technologie wird nicht um der Technologie willen eingesetzt, sondern wir machen es relevant für Nutzer.

Wie verlief der Weg von der Methodensammlung Ihres Gründers David Kelley in Kalifornien zur global eingesetzten Innovationsmethode? Er verlief nicht so systematisch und strategisch. Kelley baute die Firma und die Kultur auf, wo Leute mit verschiedenen Hintergründen – Designer, Anthropologen, Businessleute – einen gemeinsamen Weg gefunden haben, zusammen zu arbeiten. Dann hat er den Ansatz formalisiert und Bücher darüber geschrieben. Schließlich haben wir gemerkt, dass unsere Kunden das mehr und mehr nachfragen, weil wir auf diese Weise zu innovativen Produkten kamen. Anfangs ging es in den Projekten darum, ein Produkt innerhalb eines Jahres zu verbessern. Dann stellte man fest, dass eine leichte Verbesserung keine ausreichende Differenzierung im globalen Wettbewerb bedeutete. Unternehmen wollen und müssen sich neu erfinden. Heute designen wir nicht mehr einzelne Produkte in Isolation neu, sondern bieten ganzheitliche Erfahrungswelten an und helfen auch, ganze Organisationen neu zu gestalten.

Welche Projekte verfolgen Sie in Deutschland? Heute haben wir eine Position, dass wir nicht nur einmal helfen. Unsere Kunden brauchen neue Ansätze und eine neue Firmenkultur, um nicht einmal Innovation zu betreiben, sondern sich kontinuierlich neu zu erfinden. Wir arbeiten in allen Branchen von Industrie über Mobilität zum Finanzsektor. Zalando, Deutsche Lufthansa und Ikea zählen zu unseren Kunden. Wir arbeiten auf verschiedene Arten. Das können „Sprint“-Projekte sein oder Versuche, eine neue Kultur zu etablieren. Zalando hat mit unserer Hilfe das Zalando Studio auf dem Unternehmens-Campus eröffnet, das sich die Frage stellt, wo neue große Geschäftsfelder liegen. Erst ging es um Kundenzentriertheit, dann zunehmend um Ideen für einen Wandel.

Ist es nicht größenwahnsinnig zu glauben, das könne überall helfen? Jedes Unternehmen hat heute zwei große Herausforderungen: Trotz aller Disruption müssen sie operativ exzellent sein und ihre Operationen am Leben halten und optimieren. Dazu kann Design Thinking weniger beitragen. Zweitens aber dürfen sich Unternehmen nicht auf ihren Kerngeschäftsmodellen ausruhen, sondern müssen sich fragen, wo neue Businessansätze liegen. Hier kann Design Thinking helfen. Deshalb besteht die Aufgabe darin, beide Themen auszubalancieren.

Wie muss eine Struktur aussehen, damit nicht nur sechs Mitarbeiter in einem Innovationslab profitieren, sondern der ganze Konzern innovativer wird? Es ist nicht einfach, sich als ein erfolgreiches Unternehmen darauf einzustellen. Interne und externe Labs haben beide Vor- und Nachteile. Wichtig ist, dass die Führung die Ernsthaftigkeit besitzt, sich auf den Wandel einzustellen. Dafür darf es kein Seitenprojekt sein, in dem man nur ein Projekt sponsert, sondern mitgestaltet. Unser Ansatz bietet keinen Masterplan, sondern geht Schritt für Schritt vor. Erst geht es darum, wie der Markt aussieht, was das Unternehmen ausmacht und wo Stärken und Schwächen liegen. Bevor man mit einem Lab anfängt, sollte man zunächst ein Leuchtturmprojekt machen, das sich am Markt orientiert. So kann man mit einem kleinen Team ein Produkt auf den Markt bringen. Man schafft Resultate und Evidenzen. Das ist ein Lernvehikel für die Firma und für uns, um zu sehen, was schon gut klappt und welche Fähigkeiten fehlen. Man muss klein anfangen und Erfolge zeigen. Dann kann man Schritt für Schritt skalieren.

Unternehmensberater, die mit der Methode arbeiten, berichten von erstaunlichen Erfolgen, wenn Chefs sich öffnen. Was müssen Manager lernen? Die heutige Welt ist schnelllebig geworden. Es gibt keine Monopole mehr und Geschäftsmodelle, auf denen man sich jahrelang ausruhen kann. Als Führungskraft reicht es nicht, Manager zu sein, sondern man muss unternehmerisch handeln und sich fragen, wo das Geschäftsmodell der Zukunft herkommt und wo der eigene Anteil daran ist. Deshalb etablieren wir solche Modelle. Die Labs sind nur Werkzeuge, die dabei helfen können.

Was muss sich im Umgang mit Mitarbeitern wandeln? Die Herausforderung besteht darin, erstens das Kerngeschäft zu optimieren und zweitens agiler und unternehmerischer zu werden. Dafür braucht man oft neue Fähigkeiten, die es im Unternehmen oft noch nicht gibt. Es braucht eine neue Firmenkultur. Wir beschäftigen uns in den Projekten immer mehr mit dem „Purpose“, dem Zweck des Unternehmens. Es geht auch darum, wie man Mitarbeiter langfristig bindet, um eine Kultur entstehen zu lassen. Jeder sollte verstehen, wo er ist und was das Ziel der Operationen ist.

Wie steht Deutschland aus Ihrer Sicht international da? Unser Unternehmen agiert global, deshalb haben wir einen guten Überblick. Viele Länder sind sehr innovativ. Deutschland hat dieselben Chancen und Herausforderungen wie jedes andere Land. Ich sehr viele gute Dinge: Start-ups und auch große Unternehmen, die mit viel Nachdruck, Energie und Begeisterung dran sind. Sie haben vielleicht etwas länger gebraucht, aber jetzt haben sie Erfolgserlebnisse.

Welchen Stellenwert hat SAP-Gründer Hasso Plattner für diese Welle des Design Thinking? Plattner hat mit unserem Gründer David Kelley die D-School in Stanford aufgebaut, um Design Thinking und die Businesswelt zusammenzubringen. Er hat es gesponsert und im zweiten Schritt nach Deutschland gebracht. Das war ein wichtiges Element neben anderen.

Welches sind die anderen? Bosch und andere große Unternehmen haben eine globale Sicht der Dinge. Dadurch bekommen sie solche Entwicklungen früher mit. In der global vernetzten Welt hat sich Design Thinking über viele Kanäle durchgesetzt.

Wie sind Sie persönlich dazu gekommen? Ich habe Design in Amerika studiert, an der Rhode Island School of Design. IDEO war in meiner Welt das Nonplusultra. Ich bin halb Österreicher und halb Schwede und wollte nach Europa zurück. Ich fing bei IDEO an und habe alle Stufen durchlaufen. Das multidisziplinäre Arbeiten hat mich fasziniert. Ingenieure und Designer zusammenzubringen, war für mich damals völlig neu.

Multidisziplinarität bedeutet aber immer auch einen Faustschlag ins Gesicht des Establishments. Deshalb stellen wir nur Leute ein, die sich darauf einlassen, mit anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten. Wir stellen keine Spezialisten ein. Die Kultur im „Little Book of IDEO“ ist uns heilig. Nur so kann es für uns gehen. Wer einen wirtschaftlichen Hintergrund von einer guten Universität gar, dessen Stimme zählt nicht mehr als die eines Designers von einer nicht so guten Uni. So etwas entsteht nicht automatisch. Man muss diese vermeintlich soften Dinge genauso ernst nehmen wie das Business. Letztlich ist es wie beim Gärtnern: Wir hatten 40 Jahre Zeit. Deshalb sieht unser Garten jetzt so gut aus. Wer neu hinzukommt, der denkt: Wie schwer muss das sein. Und er hat recht: Es war harte Arbeit dahinzukommen.

Wen man auch fragt, die Anwender des Design Thinking sind begeistert. Man verändere das Arbeitsumfeld (Großraumbüros, Sofas, Kickertisch), breche Spartensilos auf und gebe Mitarbeitern Schere, Pappen, Legosteine und bunte Post-Its in die Hand. Anschließend sprudelten Ideen, Teams übernähmen Verantwortung, Kundenzentrierung rücke in den Fokus. Hierarchien erwiesen sich als hinderlich bis überflüssig.

Ein Doping für eingeschlafene Konzerne? Oder doch eine Art sektenartige Heilslehre? Khalil Bawar findet die Zeit für ein Treffen in Frankfurt, er arbeitet für die Beratungsgesellschaft Navigation Lab, die aus der Deutschen Telekom hervorgegangen ist. Sein Büro ist der ICE. Es ist der 11. Januar 2017. Was Bawars Auftraggeber eint: Sie wollen innovativer werden. Viele verfolgten diesen Ansatz: Die Konzernspitze reise zum Plattner-Institut, um den Duft des Silicon Valleys und Tel Avivs zu atmen. „Nach der Power-Einheit Design Thinking sind sie ganz beseelt und schicken kleine Ausgründungen auf den Weg“, sagt er. „Aber in den Zentralen tut sich nichts.“

Coach Jule unterstützt die Teilnehmer eines Workshops, ihre Ideen zu konzeptualisieren und zu visualisieren. Foto: Daniel Pilar
Design Thinking beinhaltet viele schnelle Sprints und Kundenbefragungen, um zügig zu tragfähigen Ideen zu kommen. Foto: Daniel Pilar
Außenansicht des Hauptgebäudes des Hasso-Plattner-Instituts, das der SAP-Gründer aufgebaut hat, um Forschung auf Spitzenniveau zu ermöglichen. Foto: Daniel Pilar

Bawar bleibt nicht beim Design Thinking stehen. Wer innovativ sein wolle, müsse Zeitverschwendung abschaffen. Viel zu selten beobachteten Unternehmen, wie Kunden ihr Produkt verwendeten. Berate er Unternehmen, fange er mit Führungskräften an und hinterfrage jede ihrer Verhaltensweisen. „Neulich fragte mich eine Sekretärin: ,Was hast du mit dem gemacht? Der kommt lachend ins Büro, die Stimmung hat sich gedreht‘“, erzählt Bawar. Ohne Veränderungsbereitschaft in den Vorständen gebe es keine unternehmerische Transformation.
Es klingt ein bisschen wie Voodoo: Manager entdecken Lego-Steine, Büro-Design und das Lachen – und mit einem Mal haben sie den Kunden im Blick? Nach all der Marktforschung, all den Befragungen, dem Hirnschmalz, der ins Marketing floss?

Es dauert eine Weile, bis Ulrich Weinberg Zeit für ein Gespräch hat. Er ist der deutsche Design-Thinking-Guru, hat die D-School am Hasso-Plattner-Institut aufgebaut und leitet sie. Hier werden Studenten ausgebildet. „Man ist leicht versucht, das für Kinderkram zu halten. Aber die Auto- und Baubranche schicken Hunderte von Leuten zu uns, weil sie sich bewegen müssen“, sagt er. Eintausend Workshop-Teilnehmer zählte die D-School im Jahr 2014, zwei Jahre später waren es schon vier mal so viele. SAP, die Nord LB, Bosch waren dabei, Gewerkschaften, Sozialverbände und die Diakonie.


„Man ist leicht versucht, das für Kinderkram zu halten. Aber die Auto- und Baubranche schicken Hunderte von Leuten zu uns, weil sie sich bewegen müssen“
Ulrich Weinberg, Leiter der D-School im Hasso-Plattner-Institute

Höchste Zeit, dem Hasso-Plattner-Institut in Potsdam einen Besuch abzustatten. In einer alten Bahnvilla läuft ein Workshop. An den Wänden prangen Sprüche. „Fail early and often“, „Think user centric“, „Encourage wild ideas“ – Leitsätze der Lehre. Auf einem Sofa flätzen sich Teilnehmer und trinken Fritz-Kola. Durch eine Tür geht es in einen großen Raum, der wie ein unaufgeräumtes Kinderzimmer aussieht. Legosteine, Spielzeugautos, große Plastikboxen, Perücken. Auf einer Pappe ist die Karte einer Großstadt aufgemalt. Die Teilnehmer arbeiten für einen kommunalen Wasserbetrieb und sollen mit Hilfe von Design Thinking dessen Kundenportal im Internet verbessern. Es ist der 29. März 2017, der dritte von drei Workshoptagen.

Teilnehmer eines Design-Thinking-Workshops entwickeln spielerisch neue Ideen. Foto: Daniel Pilar

U m 13 Uhr schlägt ein Gong. Die Mittagspause ist zu Ende. „Ihr werdet jetzt drei Minuten eure Prototypen vorstellen“, sagt Samuel, ein junger Coach, der die Methode zwei Semester lang an der D-School gelernt hat. Die Stadtkarte soll eine Anwendung im Portal symbolisieren. Nach drei Minuten piept ein Wecker. Applaus. Die nächste Gruppe ist dran. Nach der dritten Präsentation sagt ein Coach: „Zurück zu den Teamspaces.“

Man versteht langsam, was mit Sprint gemeint ist: Arbeitsprozesse werden in Kleinstschritte aufgeteilt und zügig beendet. „Was ist euer Ziel? Schreibt das auf“, bittet Coach Jule ihre Gruppe. „Kunden erleben die Wasserbetriebe im Alltag“, schreibt eine Teilnehmerin. Die anderen finden das treffend. „Wen wollen wir mitnehmen“, fragt Jule. Frage für Frage hangeln sie sich weiter. Ob es sie ihrem Ziel näher bringt, ist nicht vorhersehbar. Das wird der nächste Test zeigen. Aber Scheitern ist nicht schlimm: „Wenn man nur 45 Minuten gebastelt hat, tut es nicht so weh, sich von einer gescheiterten Idee zu trennen“, sagt Samuel.


„Wenn man nur 45 Minuten gebastelt hat, tut es nicht so weh, sich von einer gescheiterten Idee zu trennen“
Coach Samuel

„Früher hieß es: Wie findet ihr den Mercedes? Heute fragt man: Wie wollt ihr ihn“, sagt Timm Krohn, Chief Operating Officer des Plattner-Instituts. Anfangs bearbeiteten Studenten der D-School Probleme für Unternehmen. Irgendwann dachten diese: Warum nicht selbst unsere Herausforderungen knacken? „Alle wollen es, alle haben Spaß daran: von Bayer bis zur Ergo, von Continental bis Otto“, sagt Krohn. Der Erfolg von Design Thinking sei schwer messbar. Anekdoten verraten aber einiges: Ein asiatisches Land rätselte über seine hohe Frühgeborenen-Sterblichkeit – dabei war die Versorgung mit Brutkästen gut. Teilnehmer eines Design-Thinking- Workshops flogen ins Land. Durch Tiefeninterviews fanden sie den „Pain Point“, den schmerzauslösenden Punkt. Die Infrastruktur war in den Städten, in die es die Landbevölkerung nicht rechtzeitig schaffte. Zwei Stunden mussten überbrückt werden. Die Lösung: ein einfacher Schlafsack, der Babys warm hielt. Den Prototyp gibt es schon. „Er ist anfassbar, aber noch nicht perfekt“, sagt Krohn. Design Thinking strebt nicht nach Perfektion, sondern nach Anfassbarkeit.

Doch solche Einzelerfolge bedeuten nicht, dass das Vertrauen gerechtfertigt ist, das Konzerne in das Konzept setzen. Gerade die wenig erfindungsreichen Finanzdienstleister bauen darauf. Es ist der 15. Juni 2017. Patrick Müller ist der Leiter Nachwuchskräfte der Nord LB, einer von sechs Landesbanken auf Identitätssuche. „Banken sind nicht die innovativste Branche. Die letzte große Innovation war der Geldautomat vor 50 bis 60 Jahren“, sagt er. Schon 2015 hat die Bank zehn Führungskräfte zum Hasso-Plattner-Institut geschickt. Im Jahr darauf bildete eine interne Akademie vierzig weitere Mitarbeiter aus. „Wir wollten eine Innovationskultur schaffen.“


„Banken sind nicht die innovativste Branche. Die letzte große Innovation war der Geldautomat vor 50 bis 60 Jahren“
Patrick Müller, Leiter Nachwuchskräfte der Nord LB

Auch die Nord LB baute Räume um. Hohe Tische, Prototyping-Materialien, Sofas, Post-Its. Alles riecht nach Potsdam. Doch so etwas in einer traditionellen Organisation umzusetzen, ist schwierig. „Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es in einer Bank ist, Lego zu bestellen“, sagt Müller. Vorgesetzte fragten, was er da veranstalte. Doch was anfangs als Spinnerei galt, wird nun Teil der Ausbildung. Vorgesetzte stellen fest, dass sich die Motivation verbessert. Methode und Räume sollen allen zugänglich sein und nicht nur Schnellbooten. Ein Service-Center mit 24 Stunden Erreichbarkeit wird gestartet. Ein grauer Herbsttag am Frankfurter Flughafen, der 20. Oktober 2017. Norbert Rollinger setzt sich im beigen Trenchcoat in einen Bus. Elf Mitfahrer haben Platz. Ein Fahrer? Fehlt. Der Vorstandsvorsitzende der R+V hat soeben das erste automatisierte Fahrzeug betreten, das auf deutschen Straßen außerhalb von Teststrecken fährt. Sechs Mitarbeiter aus dem Team MO14 beantworten ihm im Bus drängende Fragen. Vor zehn Monaten waren ihre Ideen noch wild durcheinander gegangen, auf einem rosa Post-It stand die Grill- Drohne „Wurst-on-demand“, das Team dachte ferner auch an Mobilitätskarten.

H erausgekommen ist etwas ganz anderes. Das MO14-Team besorgte sich Mittel, um einen Bus ohne Fahrer zu finanzieren, vom TÜV zertifizieren zu lassen und zu testen – im Gespräch mit Fahrradfahrern, Fußgängern und Lieferwagenfahrern. Die Daten könnten Hinweise über die Mobilität der Zukunft geben. Zeigt sich hier, was hinter dem Schlüsselloch der Zukunft geschieht? „Wir machen das Forschungsprojekt, um Daten zu erheben: Wie interagiert das Fahrzeug mit seiner Umwelt, und wie fühlen sich Menschen, wenn wir sagen, wir überlassen der Maschine das Fahren“, sagt Rollinger. Zwei Monate später verschickt sein Unternehmen eine Mitteilung über Tests mit blinden Mitfahrern. „Ich würde gern auf dem Land leben. Aber gerade in abgelegenen Dörfern fahren heute oft nur zwei oder drei Busse am Tag. Ohne Auto ist man da verloren“, sagte einer der Teilnehmer. Hat das Design-Thinking-Team der R+V gerade den „Pain Point“ der Blinden im Verkehr offengelegt?

Blick auf eine Tür voller Post-Its einer Workshop-Gruppe im Hasso-Plattner-Institut Foto: Daniel Pilar

In Stuttgart-Vaihingen sind kaum Fragezeichen zu vernehmen. Die Abteilung User Experience ist so verankert im Bosch-Konzern, dass man ihren Einfluss als Fakt hinnehmen muss. „Design Thinking fördert bessere innovative Lösungen. Bei Bosch werden daher cross-funktionale Organisationsformen zunehmen“, sagt Uwe Raschke, Mitglied der Geschäftsführung von Bosch, an einem verschneiten Tag, dem 22. Februar 2018. Drei Lehren ließen sich aus der Methode ziehen: Je verschiedener Leute seien, desto bessere Lösungen heckten sie aus. Schnelles Arbeiten an Prototypen erlaube es, eine Idee früh am Kunden zu testen. Räume beeinflussten die Kreativität.

Raschke führt seine Besucher zum Project Space. Die Einrichtung ist bekannt: Pappwände, Post-Its, gemütliche Sofas. Judith Pfeiffer ist die Leiterin der User Experience. Zum Aufwärmen schlägt sie ein Spiel vor: das Gegenüber zu zeichnen. In 30 Sekunden. „Damit gewöhnt man sich an zwei Elemente des Design Thinking: sich auf den Nutzer zu konzentrieren und sofort in die Visualisierung zu gehen“, sagt die promovierte Physikerin. Fünf Stäbe liegen neben ihr. Einer sieht aus wie ein Tischbein, ein anderer wie ein Gartengerät. Ein Spargelsensor. In Interviews mit Landwirten hatte ein Design-Thinking- Team erfahren, dass Spargelbauern abends um 18 Uhr aufwändig die Temperatur ihres Ackers messen müssen. Der Sensor schickt Daten auf eine Cloud. Vier Prototypen entstanden. Jedes mal arbeitete das Team Vorbehalte der Kunden ein. Der fünfte Prototyp passte. „Das Ergebnis ist eine echte Teamarbeit. Man muss die Interviews mitgemacht haben, um den Pain Point zu verstehen“, sagt Pfeiffer.

Knapp 15 Kilometer trennen die User Experience und den neuen IT-Campus von Bosch im Stuttgarter Norden. In der User Experience der Unternehmens-IT testen Mitarbeiter digitale Prototypen mit Design-Thinking-Methoden. Mit einem Eyetracker überprüfen sie, wohin Augen auf einem Bildschirm wandern, wenn sie eine App oder eine Software erblicken. Nebenan Wände mit Post-Its, Legosteinen, Fritz Kola. „Wir haben einen bedeutenden Anteil unserer Räume bereits derart gestaltet“, sagt Vorstand Raschke. „Bei Neubauten ist das obligatorisch.“ Der Konzern wolle die Idee, vom Kunden zu denken, überall etablieren. 12 000 der global 400 000 Mitarbeiter, vor allem solche, die Produkte entwickeln, sind im Design Thinking geschult worden. „Ich habe selten ein Konzept erlebt, das auf so einhellige Zustimmung stößt“, sagt er. Seine Generation hätte sich eher die Finger abgehackt, als mit einem unfertigen Produkt zum Kunden zu gehen. Er lerne um.

Verworfene Ideen: Das Motto des Design Thinking ist „fail early and fail often“. Foto: Daniel Pilar

Viele Projektteams gehen weit weg vom Kerngeschäft: Das MO14-Team der R+V Versicherung befasste sich mit der Zukunft der Mobilität, auch Bosch versteht sich nicht mehr als Komponentenhersteller, sondern als Mobilitätsdienstleister. Führt Design Thinking dazu, dass sich Unternehmen nur noch um heiße Zukunftsthemen kümmern und sich in derselben Richtung vom traditionellen Geschäft wegbewegen? Wird der Kuchen, um den die Konzerne kreisen, kleiner? „Nein“, sagt Bosch-Vorstand Raschke. „Wir erleben eine Goldgräberphase für innovative Ideen. Der Kuchen wird größer, aber es gibt Überlappungen, in denen sich Marktteilnehmer neu finden müssen.“ Die Welt werde komplexer, es werde mehr Kooperationen geben. Nichts von dem, was Raschke sagt, klingt nach Esoterik.