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Stefan Kuzmany

Merkels Flüchtlingspolitik Meine Kanzlerin

Merkel? Unwählbar. Das dachte unser Autor jedenfalls, bis er die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise erlebte. Es mag sein, dass sie gerade Zuspruch verliert - einen Anhänger hat sie gewonnen.
Angela Merkel mit Flüchtlingen in Berlin, September 2015

Angela Merkel mit Flüchtlingen in Berlin, September 2015

Foto: Sean Gallup/ Getty Images

Was habe ich mich über diese Frau geärgert. Angela Merkel als Kanzlerin, das war bräsiger Stillstand, das war die fantasielose Verwaltung des Status quo, das war die komplette Abwesenheit einer Vision.

Ein politischer Totalausfall. Ihre Wahlen hat sie stets mit der Komplettverweigerung einer Debatte gewonnen, da genügte ein einziger Satz: "Sie kennen mich." Und schon saß diese kühle Pragmatikerin wieder für weitere vier Jahre im Kanzleramt. Ja, dachte ich, ich kenne die. Und darum wollte ich nicht von ihr regiert werden.

Dabei stimmte das offenbar nicht: Ich kannte sie nicht. Und nicht nur ich. Erst jetzt, in der Flüchtlingskrise, lernt dieses Land Angela Merkel wirklich kennen.

Vorher konnte man, angesichts höchst spärlicher Informationen (Physikerin, geschieden, kinderlos, Joachim Sauer, Streuselkuchen) nur ahnen, was diese Frau bewegt. Eine Position war nicht erkennbar. Es schien, als regiere sie ausschließlich nach Umfragewerten, als sei Merkels Beliebtheit nur eine Folge ihres Opportunismus: Popularität durch populäre Entscheidungen. Diese Strategie machte sie unangreifbar als Chefin der CDU, sicherte sie der Partei doch die Regierungsmacht. Und sie machte sie verhasst bei den Anhängern aller anderen Parteien.

Im Umgang mit der Flüchtlingskrise zeigt sich: Diese Kanzlerin hat doch einen eigenen Standpunkt - und den vertritt sie, ohne dabei auf ihre Umfragewerte zu schielen. Angesichts Tausender Menschen, die aus Krieg und Not nach Deutschland kommen, setzt Merkel auf Freundlichkeit und Offenheit, auf die Pflicht zur Solidarität, man könnte auch sagen: auf eine protestantisch geprägte christliche Nächstenliebe. Seltsamerweise scheint sie damit den Linken im Lande näherzustehen als ihren eigenen Leuten, die doch die Christlichkeit im Parteinamen führen.

Der bemerkenswerte Auftritt bei Anne Will zeigte eine Kanzlerin, die bei aller Anspannung mit sich selbst im Reinen ist. Sie hat für sich und das Land die Entscheidung getroffen, dass es besser ist, die massenhafte Flucht nach Deutschland zu gestalten, als zu versuchen, sie zu verhindern. Sie hat abgewogen und erkannt: Deutschland kann sich nicht abschotten. Sie nimmt zur Kenntnis, dass manche ihrer Landsleute und Parteifreunde davon träumen, das Problem werde wieder vergehen, wenn man nur die Grenzen dichtmacht. Aber die Kanzlerin, hier doch ganz die alte, ist keine Träumerin.

Es mag sein, dass Angela Merkel für ihre Flüchtlingspolitik den Friedensnobelpreis bekommt oder die Kanzlerschaft verliert - oder beides. All das ist ihr offensichtlich vollkommen egal: Sie hat sich dieser gewaltigen Aufgabe verschrieben und wird an einer Lösung arbeiten; das ist alles, was zählt. Und weil Merkel glaubhaft dieses Pflichtbewusstsein verkörpert, kann sie es auch einfordern von ihrer Partei, von den Beamten und den Bürgern dieses Landes. Und, das ist mindestens ebenso wichtig, von den anderen Regierungschefs der Europäischen Union.

Nur mit der zuversichtlichen Beharrlichkeit, die Merkel ausstrahlt, haben Deutschland und Europa die Chance, diese Flüchtlingskrise zu einer guten Lösung zu bringen, zu einem neuen Miteinander zu kommen. Dieses Land wird sich dabei verändern. Aber es gibt keinen Grund zur Befürchtung, dass es unterwegs seine Werte und Kultur verlieren wird: Deutschland ist stark.

Viel ist jetzt die Rede davon, dass Angela Merkel an Zuspruch verliert in der Bevölkerung und in den Reihen der Union. Doch einen Anhänger hat sie gewonnen. Ich habe sie nicht gewählt, und trotzdem bin ich heute froh, sagen zu können: Das ist meine Kanzlerin.

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