Politik

Flüchtlingshilfe am "LAGeSo" Wie Freiwillige den Staat ersetzen

Seit Wochen organisiert die Initiative "Moabit Hilft" drei Mahlzeiten pro Tag und Flüchtling. Alle Mittel stammen aus privaten Spenden. Die Stadt hinkt hinterher.

Seit Wochen organisiert die Initiative "Moabit Hilft" drei Mahlzeiten pro Tag und Flüchtling. Alle Mittel stammen aus privaten Spenden. Die Stadt hinkt hinterher.

(Foto: dpa)

Wie träge eine Verwaltung ist, wenn sie sich auf falsche Prognosen verlässt, sieht man in Berlin. Täglich warten mehr als 1000 Flüchtlinge an der Registrierungsstelle. Bis sie an der Reihe sind, dauert es Tage. Während dieser Zeit kümmern sich nur Freiwillige um sie.

Wohin mit den Windeln und den Zahnbürsten? In den größeren Raum oder dorthin, wo das Zeug eigentlich verteilt werden soll? Jetzt bricht aber erst einmal Gewusel aus an Haus R, die Frage mit den Windeln muss warten. Kistenweise werden Fladenbrote hereingetragen. Giorgia S. steht mittendrin und versucht, Ordnung hineinzubringen. Sie ist die jüngste hier, aber von Anfang an dabei. Deshalb hat sie Durchblick. "Um halb eins beginnt die Essensausgabe. Wir brauchen das Brot für die Mittagessen." Dann machen sich sechs Freiwillige daran, Dutzende Fladenbrote in Spalten zu schneiden. Sie müssen für 1200 Mittagessen reichen.

So sieht seit Wochen der Alltag vieler in Berlin-Moabit aus. Freiwillige leisten dort die meiste Hilfe für Flüchtlinge, weil die Stadt es nicht schafft. "Moabit Hilft" hat ein System entwickelt, um täglich weit mehr als 1000 Flüchtlinge am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales ("LAGeSo") zu versorgen. Die warten dort zum Teil tagelang auf ein Stück Papier. Die Initiative hat eine Lücke gefüllt, nachdem die Stadtverwaltung nicht in der Lage gewesen war, nach dem Rekordmonat Juli einfachste Notmaßnahmen für tausende Neuankömmlinge vor dem Lageso zu ergreifen: Wasser, Sanitäranlagen, Essen. Jetzt sollen die Freiwilligen Kompetenzen an Organisationen abgeben. Seit zwei Wochen ist etwa die Caritas vor Ort.

So einfach ist das aber nicht. Viele der Helfer der ersten Stunde fragen sich: Kriegen die Stadt und die anderen Organisationen das wirklich hin? Wann und was vom Land Berlin übernommen oder weiterdelegiert wird, wissen selbst die Koordinatoren von "Moabit Hilft" noch nicht. "Letzte Woche hieß es, das Catering werde nun von der Stadt übernommen. Also haben wir die Lager mit dem gespendeten Essen langsam leergeräumt", sagt Giorgia S. "Dann kam aber keiner, also haben wir weitergemacht." Weitermachen heißt im Fall der Gymnasiastin, die ab nächster Woche die 11. Klasse besuchen wird: Unbezahlte 15-Stunden-Schichten auf dem Lageso-Gelände, während Schulkameraden einträglich jobben oder in den Urlaub gefahren sind.

Nach dem Rekordmonat Juli brach Chaos aus

Im Juli kamen viermal mehr Flüchtlinge nach Berlin als im selben Monat vor einem Jahr - mehr als 4000. Am 19. August veröffentlichte das Bundesamt für Migration die neuen Zahlen. Die Bundesregierung rechnet für 2015 mit 800.000 Flüchtlingen in Deutschland, davon werden voraussichtlich 40.000 Berlin ansteuern. Bis Mitte August kamen mehr als 18.000 Geflohene in der Hauptstadt an. Und alle müssen durch das Nadelöhr namens Lageso, um ihren Erstaufnahmeantrag zu stellen. Häufig liegt dort ihr Pass, ohne den sie nicht weiterkommen.

Die meisten Flüchtlinge hier kommen aus Syrien. Vergangene Woche räumte der Moabiter Bürgermeister Christian Hanke ein: "Als ich aus dem Urlaub zurückkam, war ich auch schockiert über die Zustände. Das erinnerte mehr an ein Flüchtlingslager in Jordanien oder im Libanon."

Giorgia S. (r.) erklärt Freiwilligen, wie das Essen zu verteilen ist.

Giorgia S. (r.) erklärt Freiwilligen, wie das Essen zu verteilen ist.

(Foto: n-tv.de/nsc)

"Moabit Hilft" ist eine Initiative, wie es sie in ähnlicher Form mittlerweile in mehreren Stadtteilen von Berlin und in ganz Deutschland gibt. Das Versagen am Lageso in Berlin schlug Anfang des Monats solche Wellen, dass die Stadt inzwischen reagiert hat. Vor gut zwei Wochen verkündete der Senat die Einrichtung eines "landesweiten Koordinierungsstab Flüchtlingsmanagement". Inzwischen sind immerhin auch die Caritas und die Johanniter am Lageso. Die Berliner Wasserbetriebe haben kurz nach Ende der großen Hitze einen Trinkbrunnen installiert.

Einmal am Tag "Moabiter Ratatouille"

Erst durch die Prozedur im Lageso werden die Menschen als Asylbewerber registriert, erhalten Anspruch auf Grundversorgung und werden auf Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt. Mit ehrenamtlichen Dolmetschern versuchen die Helfer auch den Mitarbeitern im Lageso unter die Arme zu greifen - indem den Wartenden immer wieder erklärt wird, wie das bürokratische Prozedere abläuft. Bis diese Hürde genommen ist, bleiben für die Nächte zwischen dem Warten nur Notunterkünfte. Nacht für Nacht findet die Patrouille der Freiwilligen Dutzende Flüchtlinge in der Nähe des Lageso ohne Schlafplatz. Die Vermittlung von oft privaten Unterkünften ist eine der schwierigsten Aufgaben für die Helfer.

Vormittags vor dem Hauptgebäude des Lageso.

Vormittags vor dem Hauptgebäude des Lageso.

(Foto: n-tv.de/nsc)

"Wir müssen das jetzt einfach mal gemeinsam stemmen", sagt seufzend Christina Busch von der Caritas. "Alle Beteiligten arbeiten auf Hochtouren. Nun müssen wir Schritt für Schritt zu einer adäquaten großen Lösung finden." Wie die aber aussehen soll, weiß im Moment noch keiner. Es ist auch keine Zeit, in die Zukunft zu denken. Am Lageso ist permanent etwas zu tun und nun versuchen die Freiwilligen und die katholische Organisation erst einmal zu regeln, wer eigentlich was macht.

Giorgia S. steht unterdessen auf einem kleinen Zaun und ruft einer Gruppe von etwa 40 Freiwilligen wieder Kommandos zu: "Geht immer zu zweit! Lasst euch nicht in die Kisten greifen! Das hat hygienische Gründe. Es gibt eine Portion pro Person. Und wenn einer behauptet, er hätte noch fünf Geschwister, kriegt er trotzdem nur eine Portion!" Es geht um die Verteilung der 1200 Mittagessen, die jetzt fertig sind. Es gibt, wie jeden Tag, "Moabiter Ratatouille" - ein Eintopf aus dem gespendeten Gemüse mit einem Stück Fladenbrot für jeden. Was wird nur, wenn die zupackende 16-Jährige nicht mehr hier ist?

"Massenveranstaltungen bringen Müll und Notfälle"

Niemand macht momentan eine Rechnung ohne die Ehrenamtler. Laszlo Hubert ist auch einer von ihnen. Der frühere Gewerkschafter sitzt an einem kleinen Tisch neben dem zum Lagerhaus umfunktionierten Haus R auf dem Lageso-Gelände, vor sich ein Laptop und zwei Handys. Mindestens eines davon klingelt immer. Er erklärt Hilfsbereiten, wohin sie Kleidung bringen oder was sie einkaufen können. Er versucht, die Hilfe in sinnvolle Bahnen zu lenken und hat sogar Kontakt zu den Behörden. Bis vor kurzem war das noch anders: Im Lageso schoben die Verwaltungsmitarbeiter Überstunden, draußen sorgten die Helfer für die Minimalversorgung - und das alles ohne gegenseitigen Kontakt.

Laszlo Hubert ist immer noch ein wenig fassungslos, dass sich bis vor wenigen Wochen niemand um die Wartenden gekümmert hat. "Es ist wie bei einem Konzert", sagt er. "Folgeerscheinungen von Massenveranstaltungen sind Müll, hygienische und ärztliche Notfälle. Alles das haben wir hier auch." Nun weiß Hubert zu berichten: "Es gibt eine Aussage des zuständigen Behördenmitarbeiters, dass es ab dem kommenden Montag ein Catering gibt. Und zwar mit drei Mahlzeiten." In seinem Ton schwingt mit: Warten wir es mal ab. "Wir gehen davon aus, dass weiter ehrenamtliche Helfer gebraucht werden. Der Caterer wird wohl nicht mit so einem riesigen Personal auftauchen, wie man es für so eine Masse von Menschen braucht", sagt Hubert, und geht wieder ans Telefon.

Wer ist bedürftig, wer gibt es nur vor?

Doch nicht nur die Zahl der Helfer ist entscheidend. Menschen wie die Schülerin Giorgia S. leisten etwas, was kein Computer leisten kann: Sie hat durch die tägliche Arbeit bei den Flüchtlingen einen untrüglichen Instinkt entwickelt, wer hilfsbedürftig ist und wer es nur vorgibt. Es sei vorgekommen, dass einzelne mehrfach Essen geholt hätten. Auch geklaut wurde manches von den gespendeten Artikeln. Allerdings betonen die Helfer, dass sie ihre "Kandidaten" inzwischen kennen. Neue Schuhe gibt es deshalb jetzt nur noch im Tausch gegen das alte, abgelatschte Paar.

Die Caritas hat inzwischen die Betreuung von Kindern, Müttern und besonders Schutzbedürftigen übernommen. Deshalb diskutieren die Freiwilligen nun, ob die Windeln nicht dort besser aufgehoben wären – trotz des Platzmangels in dem niedrigen roten Backsteingebäude, das auf dem Lageso-Gelände hierfür zur Verfügung steht. "Lasst uns im großen Raum alles sortieren und dann hierher bringen", sagt einer und fügt hinzu: "Solange wir den Raum noch haben." Die Lösung stellt nicht zufrieden, weil zwischen den Gebäuden ein Fußweg quer über das ganze Gelände liegt. Aber sie ist, mal wieder, pragmatisch.

Quelle: ntv.de

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