Gesine Schwan (mi.) mit Ö1-Journalistin Renata Schmidtkunz (re.) und STANDARD-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid

Foto: huber
Foto: huber

Salzburg – Der Befund ist erschreckend: Ein Fünftel bis ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen seien von "den gleichen Bildungs- und Lebens-Chancen" ausgeschlossen. Es gehe dabei nicht nur um ein "absolutes Armutsniveau – also, dass alle schlecht dran sind", sondern zusätzlich würden in den vergangen drei Jahrzehnten die Armen immer ärmer, die Reichen wüssten oft gar nicht mehr wohin mit ihrem materiellen Reichtum und würden dies auch offen zur Schau stellen. Dies führe zu einer "Erosion" der Demokratie, warnt die Politikwissenschafterin und SPD-Politikerin Gesine Schwan.

Die Weimarer Republik sei zusammengebrochen, heute würde die Demokratie erodieren, weil in der Wirtschaftskrise die gleichen Chancen aller Menschen nur mehr auf dem Papier bestünden, fasste die ehemalige Präsidentschaftskandidatin von Rot-Grün (2004 und 2009) im Rahmen der Ö1-Reihe "Zeitgenossin im Gespräch" als Teil der "Salzburger Vorlesungen" der Universität Salzburg zum Thema Wirtschaftskrise und Demokratie im Gespräch mit der Sendungsleiterin Renata Schmidtkunz und STANDARD-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid Donnerstagabend den aktuellen Trend zusammen. Die Menschen seien verunsichert und würden sich auf ihre individuelle Sicherheit zurückziehen, lautet Schwans Diagnose.

Destruktive Lebensform

Schwan, die sich einst als parteiinterne Gegnerin von Willy Brandt gegen den Dialog mit den sozialistischen Staaten stemmte, hofft freilich heute, dass "der Höhepunkt der wirtschaftlich bedingten Kultur überschritten" sei. Dies nicht zuletzt weil das Versprechen, wenn man sich wettbewerbsorientiert verhalte, dann auch Karriere mache, nicht mehr eingelöst werde. Es gebe vor allem bei den Jüngeren eine Art "instinktive Gegenwehr gegen die rein destruktiven Lebensformen der vergangenen drei Jahrzehnte".

Sie könne diesen Eindruck freilich nicht wissenschaftlich belegen, räumt Schwan ein. Langzeitstudien, die belegen würden, dass die Wettbewerbskultur und das Kampfgefühl in der Gesellschaft zugunsten eines neuen Solidaritätsgefühls zurückgedrängt werden, lägen ihr nicht vor.

Modell "schwäbische Hausfrau"

Für mehr Solidarität tritt sie auch auf europäischer Ebene ein. Europa stehe an einer "Gabelung": Schwan fordert eine "solidarische Bürgschaft" für europäische Kredite. Im Klartext Eurobonds – "für Zukunftsinvestitionen", wie Schwan versucht zu präzisieren. Europa brauche öffentliche Nachfrage an Investitionen, damit dann auch private Nachfrage folge. Man dürfe nicht länger nur "nach dem Modell der schwäbischen Hausfrau" verfahren, "ich gebe nur das aus, was ich habe; das ist einfach albern". Es sei immer so, man investiere mit Schulden und dann würde sich das rentieren. (Thomas Neuhold, derStandard.at, 31.10.2014)