Meute und Macht

Die Unruhen in London setzen sich fort. Medien sprechen von organisierten Aktionen

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Die gewaltsamen Auschreitungen in Groß-London gingen gestern nacht weiter. Sie haben nun auch andere Viertel Londons erfasst, weiter im Süden, im Zentrum und im Norden der Stadt. Aus Brixton, Enfield, Islington, Oxford Circus und anderen Gebieten wurden laut Telegraph Plünderungen, Brandstiftungen und Zerstörungen berichtet. Die Polizei verhaftete über 100 Personen. Der Guardian vermutet organisierte Aktionen: "This time it was organised".

Die Wirklichkeit dürfte wohl zwischen den Polen "mindless people", "Chaoten", und dem liegen, was die Überschrift des Guardian suggeriert, nämlich eine durchdachte Planung, hinter der möglicherweise eine größere Strategie steckt. Die Dynamik der Ereignisse, wie sie sich aus der Berichterstattung der beiden großen britischen Medien ergibt, läßt eher darauf schließen, dass Gruppierungen situativ Vorschlägen folgen, die über Twitter, Facebook und anscheinend in großer Zahl über den Blackberry Messenger Service verbreitet werden.

Die Zerstörungen und Plünderungen lassen an eine Kennzeichnung von Gruppen denken, die Elias Canetti in "Masse und Macht" lieferte: "Jagd"- und, in eingeschränktem Maße, "Kriegsmeuten". Eine Meute ist laut Canetti dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Einheit der Aktion ist und konkret in Erscheinung tritt; ihr gehören eine begrenzte Menge von Personen an, wenn sie größer wird, dann geschieht dies "quantenhaft". Der Übergang zwischen Jagd- und Kriegsmeute ist fließend, entscheidend dafür ist, eine zweite Meute aus Menschen, die sie als ihr entgegengerichtet empfindet, z.B. Polizisten.

Sprunghaftes Anwachsen und Gerüchte

Auffällig - und beunruhigend - an den Ereignissen ist, dass sie vor Augen führen, wie fragil die Ordnung des sozialen Miteinanders ist. Wie schnell sie an bestimmten Punkten, und offensichtlich am leichtesten an "sozialen Brennpunkten", außer Kraft gesetzt werden kann. Ein Stromausfall genügt oder Gerüchte.

So ist bislang noch völlig unklar, was beim auslösenden Ereignis, dem gewaltsamen Tod eines Familienvaters während einer Polizeikontrolle, tatsächlich passiert ist. Neuere Berichte melden, dass die Kugel, die während dieser Aktion einen Polizisten traf, was dieser durch Glück überlebte, wahrscheinlich nicht aus der Waffe des getöteten Zivilisten stammte, sondern aus einer Polizeiwaffe.

Bestätigt sich dies, so wird es die Polizei noch schwerer haben, der Interpretation etwas entgegenzusetzen, die unter den Aufgebrachten kursiert: Dass der getötete Duggan selbst nicht geschossen hat und die tödliche Gewalt von der Polizei ausging und in der Situation völlig unangemessen war. Die ungeprüfte Nachricht über den brutalen Tod eines Unschuldigen, die sich schnell verbreitete, legte den ersten Funken für die Eskalation. Die Demonstration der Angehörigen und Freunde des getöteten Duggans vor der Polizeistation löste sich laut Berichterstattung der Londoner Medien bald auf. Andere Hinzugekommene aus dem Viertel führten die Sache "for Justice" weiter.

Ein anderes "Gerücht" sorgte für die nächste Eskalation: Ein 16jähriges Mädchen soll bei der Demonstration gegen die Polizei von Polizeikräften brutal niedergeknüppelt worden sein. Filmmaterial, das sich im Netz findet, zeigt allerdings eher die Erregung, die auf der Straße während der Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstraten wie Umstehenden herrschte, als dass dort Beweiskräftiges zu sehen wäre.

Jenseits davon, wie auch dieses Ereignis zustandekam, war die Nachricht von gewaltsam vorgehenden Polizisten, die ja so unglaubwürdig auch nicht ist, entscheidend für die weitere Dynamik der Ausschreitungen. Ab da war vieles "erlaubt". Hemmschwellen fielen weg, sie fielen schnell Samstagnacht...Wäre das Dienstags anders?

Die Beute

Interessant ist die Beute, welche die Jagdmeuten aus den aufgebrochenen Geschäften schleppten und welche Geschäfte sie interessierten: Boots, JD Sports, O2, Currys, Argos, Orange, PC World Comet, Vodavone, Footlockers, Marks & Spencer, H & M Kleidung, G-Star Jeans, sogar von einem gestohlenen Audi ist die Rede - steht das nicht alles für Lifestyle?

Man holt sich Güter, die der Konsumenten-Crowd von Werbung, Medien und in Peer-Groups mit begehrenswertem Glanz vorgehalten werden. Dazu Lebensmittel von den Discountern Aldi und Lidl. Billig einkaufen im Extrem, ohne zu zahlen, weil der Konsens aufgekündigt wurde, ausgesetzt für eine Nacht, wie im Kino. Der Ausnahmezustand ist filmreif, und man kommt in dem aufregenden Reenactement dystopischer Filme selbst drin vor, in zig Bildern und Filmen auf You-Tube und Twitter - ein Spektakel der Umdrehung der Verhältnisse: die Rioters als Herren über die Güter (was die Polizei in manchem Fall leichtes Spiel läßt).

Big Society

Was daraus folgt? Vielleicht die Einsicht, wie brüchig der Konsens geworden ist, auf den zivilisatorische Errungenschaften, wie das friedliche Miteinander, basieren. Die soziale Gerechtigkeit steht seit langem unter Verdacht, dass sie nur mehr eine hohle Phrase ist. Gerüchte, eine bestimmte Narration genügen, um Ereignisse in Gang zu setzen, die "Gerechtigkeit" in einen anderen Rahmen setzen, nach Gefühl einer kleineren Gemeinschaft, nicht nach dem Konsens der größeren.

Dazu kommen Spannungen der "Big Society", die sich in der Nähe eines Pulverfasses sehr schnell entladen können. Etwa diejenige zwischen dem Konsumleben, das die Leistungsgesellschaft als faktisch leitkulturelle Belohnung verspricht, und der real gegebenen Unzulänglichkeit von Lebenswelten, in der Macht kurz dann gespürt wird, wenn sie sich in einem Rausch der Zerstörung auslebt. Ohne Rücksichten auf Opfer, die zu ihrer Gemeinschaft gehören. Die Geschäfte, die zerstört wurden, bildeten auch die Existenzgrundlage mancher Besitzer.

Der Einzelfall gilt den Meuten nichts, nur die Erregung.

Ein Augenzeuge, der gegenüber der Polizeistation in Tottenham lebt, wo die erste Demonstration stattfand, berichtet im Guardian:

There are a lot of very good people here. The looting wasn't a part of the demonstration. People came from all over London to 'join in' and the community I live in has been ruined.
Now, beyond the anger, I'm sad, desperately sad.
This wasn't just about a policing, this was about mindless violence and aggression by disaffected and alienated youth and not just in Tottenham.
Meanwhile the people I know, the shops I visit, my neighbours have had their lives ripped apart and the community which is wracked by poverty and joblessness is further labeled and further disadvantaged.