Flucht in die Reformen

Bern, 16.10.2010 - Referat von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, gehalten bei „Chance Miliz“ in Luzern.

Es gilt das gesprochene Wort!

Reformmarathon und finanzielle Auszehrung

Armee 61, Armee 95, Armee XXI, Entwicklungsschritt 08/11 – vier verschiedene Armeen, drei Reformen. Und das in nur gut 15 Jahren. Das heisst auch: Von 625‘000 Wehrpflichtigen der Armee 61 auf geplante 120‘000 Aktive, 80‘000 Reservisten und 20‘000 Rekruten heute; von 742 Bataillonen und Abteilungen auf 181; von knapp 12 Millionen geleisteten Dienstagen 1990 auf gut 6 Millionen 2009.

Mit der anbrechenden Friedenseuphorie nach dem Mauerfall wurde in den Neunzigerjahren die Verteidigung als budgetpolitischer Steinbruch entdeckt: Noch stärker und schneller als die Armee verkleinert wurde, entzog ihr die Politik die Mittel. Um 1990 wurden noch über 1.6 Prozent des Bruttoinlandproduktes für die Landesverteidigung ausgegeben, in den letzten Jahren hat sich dieser Betrag auf etwas über 0.8 Prozent halbiert.

Jede Reform brachte neue Strukturen und neue Einsatzkonzepte. Und jede Reform geriet zum Akrobatikstück, um die Armee den wegschmelzenden Finanzen anzupassen. Bei diesem Reformtempo kann man nicht mehr von einem soliden und seriösen Prozess sprechen, das war eine Flucht nach vorne, ohne dass je klar definiert und politisch debattiert worden wäre, was denn eigentlich dieses „vorne“ ist.

Die Armee 61 gründete auf einem flächendeckenden, tiefgestaffelten Abwehrdispositiv mit befestigtem Gelände. Die infanteristische Raumverteidigung wurde mit mechanisierten Elementen und starker Artillerie kombiniert.

Mit der Armee 95 wurde die flächendeckende Kampfführung durch die dynamische Raumverteidigung ersetzt. Das sollte erlauben, mit weniger Personal die gleiche Wirkung zu erzielen. So wurde der Mannschaftsbestand um über 200‘000 Mann auf 400‘000 gedrückt, das Alter der Dienstleistungspflicht von 50 auf 42 Jahre gesenkt. Eigentlich war damals noch vorgesehen, den Bestandesabbau mit erhöhter Beweglichkeit und Feuerkraft wettzumachen. Doch das Konzept wurde nicht vollständig umgesetzt, dafür notwendige Waffensysteme wie zum Beispiel Raketenartillerie wurden nicht beschafft.

Die Schwächen der Armee 95 wie Zweijahresrhythmus der Wiederholungskurse oder Kadermangel, die sich bald bemerkbar machten, sollte die Armee XXI mit einer grundlegenden Neukonzeption beseitigen. In der Armee XXI wurde unter finanziellem Druck der Grundsatz aufgegeben, dass jede Einheit vollständig ausgerüstet ist. Die Verbände erhielten stattdessen Material und Fahrzeuge aus einem Pool. Neu wurde zwischen aktiven und Reserveformationen unterschieden; das Dienstalter wurde nochmals gesenkt. Einem militärischen Angriff musste nicht mehr aus dem Stand begegnet werden können, vielmehr sollte während einer angenommenen Vorwarnzeit eine gezielte Rüstung und Ausbildung erfolgen. Dieses Aufwuchskonzept diente vor allem der Gewissensberuhigung und erlaubte, den Verlust der umfassenden Verteidigungskompetenz zumindest auf dem Papier zu kaschieren.

Mit dem Entwicklungsschritt 2008/11 wurde der Fokus noch stärker auf die subsidiäre Unterstützung der zivilen Behörden gelegt. Die Fähigkeit zur Abwehr eines militärischen Angriffs wurde abermals reduziert. Der Grund lag auch hier vor allem wieder bei den finanziellen Ressourcen. Als Konsequenz wurden im Wesentlichen die Zahl der Panzer-, Artillerie- und Fliegerabwehrverbände sowie die Infrastruktur weiter abgebaut.


Der Kunstgriff mit der Papierarmee

Zusammenfassend müssen wir mit Blick auf die letzten Jahre Schweizer Verteidigungspolitik feststellen: Die Reformen konnten den immer stärkeren finanziellen Druck nicht auffangen, erlangten aber immer mehr einen Selbstzweck. Immer wenn die Probleme zu gross wurden, flüchtete man sich in eine neue Reform. Und weil jede Reform neue Probleme schuf und die alten auch nicht löste, jagte eine Reform die nächste. Und das überforderte die Armee.

Die permanente Baustelle wurde geradezu zum Konzept, da sie gute Gründe lieferte, warum dieses und jenes nicht funktionierte. Mit dem Verweis auf anstehende Arbeiten liessen sich vielleicht Kritiker vertrösten, nicht aber Probleme beheben.

Ein Gleichgewicht zwischen Umfang und Auftrag der Armee und ihren Mitteln wurde nie erreicht. Chronisch unterfinanziert, zehrt die Armee seit Jahren an ihrer Substanz. Verlotternde Immobilien und aufgelaufene Instandhaltungskosten von hunderten Millionen Franken sind ebenso die Folge wie Verbände, die wegen Material- und Fahrzeugmangels im Ernstfall gar nicht aufgeboten werden könnten.

Noch entspricht die persönliche Ausrüstung des Soldaten internationalem Standard. Noch verfügt die Armee über teilweise leistungsfähige Systeme auf einem guten technologischen Stand. Noch kann sie auf eine motivierte Mannschaft und motiviertes Kader zählen. Aber die finanzielle Auszehrung bleibt nicht folgenlos. Endlich darüber zu sprechen ist ein Gebot der Redlichkeit. Die Zeit verantwortungsloser Beschönigung ist vorbei. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, zu wissen, wie es um ihre Sicherheit bestellt ist. Die Wahrheit gehört auf den Tisch, und sei sie noch so unbequem. Und sie ist unbequem:

Wir müssen zugeben, dass viele Verbände eigentlich nur auf dem Papier existieren. Die Reserveverbände sind gar nicht ausgerüstet und die aktiven Verbände so, dass unter Einschränkungen des Ausbildungsbetriebes etwa zwei von sechs Brigaden vollständig eingesetzt werden könnten.

Bei der Infanterie zum Beispiel fehlen geschützte Mannschaftstransportfahrzeuge, Radschützenpanzer, Kommandopanzer und Übermittlungsmittel. Derzeit können nur drei Infanteriebataillone vollständig ausgerüstet werden. Wenn man bedenkt, dass es für die längere Sicherung eines Objekts ein Bataillon braucht, erkennt man, wie beschränkt die Kapazität der Armee gegenwärtig ist.

Da wir nur begrenzt über Material verfügen, ist dieses in den Schulen und Wiederholungskursen dauernd im Einsatz. Das führt zu einer stärkeren Beanspruchung, zu mehr Abnützung und zu einem Instandhaltungsbedarf, der mit dem Personal der Armee nicht mehr bewältigt werden kann. Die Folge davon sind rascherer Ersatzbedarf und Mehrausgaben. Dadurch, dass das Material zum Teil nicht fristgerecht und nicht in der notwendigen Qualität bereitgestellt werden kann, wird die Ausbildung erschwert. Das gefährdet mittelfristig die Motivation der Miliz.

Mit dem Betriebssystem Logistik@V soll die Verfügbarkeit des vorhandenen Materials verbessert werden. Nach der Devise „mehr Zentralisierung und elektronische Vernetzung, weniger Standorte und Personal“ wollte man Kosten senken und Effizienz gewinnen. Auch das ein überaus kühner Fluchtversuch nach vorne, auch das eine gewagte Akrobatik. Wie so oft in den letzten Jahren, führte der organisatorische Befreiungsschlag weder zu den erhofften Einsparungen noch zu einer wirklichen Lösung des Problems.


Die Lage jetzt konsolidieren

Jetzt geht es darum, die Lage zu konsolidieren, welche die überstürzten Reformen hinterlassen haben. Allzu lange wurden Fassaden gepflegt, statt die strukturellen Probleme anzugehen. Begonnen haben wir mit Sofortmassnahmen zur Aufrechterhaltung des Betriebes:

Die Mängelliste war eine erste Auslegeordnung, auf die umgehend die dringendsten Massnahmen in den Bereichen Informatik und Logistik folgten. Diese Arbeit kann man ohne Übertreibung als Kampf gegen den Kollaps bezeichnen. Oft ist die Notbremse zu ziehen: Die notwendige Beschaffung eines neuen Kampfflugzeuges musste zurückgestellt werden, weil schlicht das Geld fehlt. Ambitiöse Projekte im Bereich der elektronisch vernetzten Kriegsführung müssen überprüft und teilweise wohl abgebrochen werden.

Weiter geht es nun darum, die Sicherheitspolitik auf ein solides Fundament zu stellen. Und dies in doppelter Hinsicht: Die Armee braucht einen klaren Auftrag, der durch einen sicherheitspolitischen Konsens getragen ist und sie braucht eine Balance zwischen finanziellen Mitteln und Grösse.

Dazu gehört eine Gesamtbetrachtung: Der Sicherheitspolitische Bericht analysiert Risiken und Gefahren. Der Armeebericht ist die logische Fortsetzung; er bewertet Bedrohungen aus militärischer Sicht, leitet daraus Konsequenzen ab und definiert ein Leistungsprofil für die künftige Armee. Dabei enthält er als Leitgedanke ein Bekenntnis zu unserer Staatstradition mit Milizprinzip und Neutralität. Gestützt auf diesen Armeebericht hat der Bundesrat die Ressourcen festgelegt.

Diese gegebenen Mittel verpflichten die Armee in Grösse und Kapazität abermals zu massiven Reduktionen. Wenn die Mittel auf 4.4 Milliarden Franken festgesetzt werden, sind wir zu weiteren harten Sparmassnahmen und einem weiteren Abbau gezwungen. Denn auch der gehetzte Reformmarathon der letzten Jahre hat kein Gleichgewicht zwischen dem Bestand an Personal, Material und Infrastruktur einerseits und den Finanzen andererseits hergestellt. Die Armee, die wir heute haben, kostet um die fünfeinhalb Milliarden Franken jährlich. Mit den gegebenen Mitteln – 4.4 Milliarden – fehlt jedes Jahr eine Milliarde für Investitionen und den Unterhalt von Material und Immobilien.

Die neue Armee wird deshalb nochmals kleiner werden müssen. Vorgesehen ist ein Sollbestand von 80‘000 Armeeangehörigen. Davon erfüllen 22‘000 den in der Verfassung festgeschriebenen Auftrag der Verteidigung, 35‘000 können als moderne Infanterie aus dem Stand sowohl für Kampfaufträge eingesetzt werden als auch die zivilen Behörden bei ausserordentlichen Lagen unterstützen, weitere 22‘000 erbringen Basisleistungen; zusätzliche 1‘000 sind für Aufgaben im Ausland vorgesehen.

Alle diese Änderungen münden bis 2012 in einer Botschaft an die Bundesversammlung über Anpassungen des Militärgesetzes und der Verordnung über die Armeeorganisation. Darin ist auch das Sparkonzept aufzunehmen, das der Bundesrat diskutieren wird. 2013 kann das Parlament die Vorlage behandeln; die Umsetzung ist ab 2015 vorgesehen. Bis dahin sind weiterhin Mängel zu beheben und anstehende Probleme zu lösen.

In einer Demokratie gilt das Primat der Politik: Diese bestimmt. Und diese trägt letztlich auch die Verantwortung. Gerade deshalb ist eine Diskussion jetzt so wichtig. Und diese Diskussion soll die Bürger miteinbeziehen, denn um deren Sicherheit geht es. In Anbetracht des stark wachsenden Bundesbudgets werden der neuen Armee ab 2014 weniger als sieben Prozent der gesamten Bundesausgaben zur Verfügung stehen. Letztlich stellen sich damit die ganz entscheidenden Fragen: Wie viel ist uns die Sicherheit wert? Und lässt sich mit den gegebenen Eckwerten die gewünschte Sicherheit noch garantieren?


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